Turm-Fraeulein
waren wie er, lagen die Stufen der Leiter ziemlich weit auseinander, und doch kam er gut voran. So stieg er einigermaßen schnell durch die Dunkelheit und zählte dabei die Stufen, damit er die Höhe abschätzen konnte. Er berechnete, daß er nach vierhundert Stufen etwa auf gleicher Höhe mit dem Laubdach sein mußte.
Mit der Zeit wurde der Aufstieg immer mühseliger. Jede einzelne Stufe kostete ihn viel Kraft. Bald war er erschöpft. Nach fünfzig Stufen hielt er keuchend inne. Wie sollte er das jemals schaffen!
Die Antwort lautete, daß er es einfach schaffen mußte. Er wußte, daß ein Stamm, der einen freundlichen Drachen vergiftete und einen Golem in eine dumpfe, feuchte Zelle warf, gegenüber einer schönen jungen Frau bestimmt keine sonderlich wundervollen Absichten hegte. Tatsächlich war Rapunzel wieder gefangen, diesmal in einem anderen Turm. Er mußte sie herausholen.
Wieder erklomm er fünfzig Stufen und hielt erneut inne. Ein Viertel des Weges war erst geschafft, und doch kam es ihm vor, als seien alle seine Kräfte schon erschöpft. Was aber blieb ihm übrig als fortzufahren?
Er stemmte und hievte sich empor. Die 134. Stufe löste sich, als er sich an ihr hochziehen wollte. Fast wäre er in die Tiefe gestürzt. Glücklicherweise aber bekam er die darunterliegende Stufe zu fassen. Er rang schwer nach Atem. Seine Angst war fast noch größer als seine Erschöpfung.
Nach einer kleinen Pause machte er sich wieder an den Aufstieg. Jetzt überprüfte er jede weitere Stufe, bevor er ihr sein volles Körpergewicht anvertraute. Natürlich mußten die Stufen mit der Zeit alt und morsch werden, und auch ihre Befestigungen verfaulten. Er hätte damit rechnen müssen. Doch besser fühlte er sich wegen dieser Erkenntnis auch nicht gerade.
Als er die 200. Stufe erreicht hatte, waren seine Arme und Beine müder denn je. Die halbe Strecke – nun war es beinahe ebenso schlimm, hinab- wie hinaufsteigen zu müssen. Er steckte in der Patsche. Er mochte immer noch kaum glauben, daß er es wirklich bis nach oben schaffte.
Er kletterte weiter, eine Stufe nach der anderen, jede eine schlimmere Qual als die vorangehende. Seine Hände bekamen schon Blasen von der Reibung, die Füße taten ihm weh von der schmalen Trittfläche. Dann platzten die Blasen, und jedes weitere Klettern verursachte heftige Schmerzen. Er konnte nicht mehr so fest zugreifen, weil seine eigenen triefenden Hände jeden Halt glitschig machten. Zugleich ließ seine Kraft immer mehr nach, so daß das ganze Unternehmen immer schwieriger wurde.
Zweihundertundfünfzig Stufen – oder waren es zweihundertfünfunddreißig? Er war nicht mehr sicher. Machte es überhaupt einen Unterschied? Nach oben mußte er, so oder so, egal, wieviel er unterwegs zählte.
Seine linke Hand verlor den Halt und seine rechte war zu erschöpft, um plötzlich wieder fest zuzupacken. Doch seine Füße glitten durch die Leiter und bremsten den Fall schmerzhaft ab. Er war nicht gestürzt – doch das war ebensosehr Zufall wie Glück.
Ob es nicht leichter wäre, einfach loszulassen? Dann wäre er sehr schnell unten, und seine Probleme wären vorbei.
Dann erinnerte er sich an Stanley Dampfer, der unten wartete – doch worauf? Wenn Grundy nicht zu ihm zurückkehrte, würde der Drache es dann allein nach Hause zu Ivy schaffen?
Grundy setzte den Aufstieg fort, ohne auf die Schmerzen in seinen Händen zu achten. Doch nun ließ die Qual schon nach, denn die Hände wurden taub und gefühllos. Bei jeder Stufe mußte er seinen Griff erneut überprüfen, nicht nur um sicherzugehen, daß sie ihn tragen konnte, sondern um sich auch davon zu überzeugen, daß er fest genug zupackte.
Auf, auf, immer weiter hinauf. Er zählte schon gar nicht mehr; das kostete zuviel Kraft. Er stieg einfach empor.
Irgendwann wollten seine tauben Muskeln einfach nicht mehr reagieren. Er hatte seine letzten Kraftreserven verbraucht. Nun konnte er nur noch hier hängenbleiben, bis er in die Tiefe stürzte.
Doch sein Geist war noch nicht so geschwächt wie sein Körper. Er dachte an Rapunzel, an die zweifelhafte Barmherzigkeit des Prinzen Bohrer. Warum hatte der Prinz sie willkommen geheißen, während er ihre Gefährten auf solch hinterhältige Art behandelte?
Die Antwort auf die Frage war schnell gefunden. Rapunzel war eine schöne und unschuldige Frau. Eben von jener Art, die ein skrupelloser Mann mühelos übertölpeln und benutzen konnte. Mit Sicherheit machte sich der Prinz nichts aus ihrer
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