Turner 02 - Dunkle Vergeltung
es gut lief, gelang es ihm, einfach irgendwie vor sich hinzuvegetieren. Aber oft genug lief es nicht gut oder wenn, dann nicht sehr lange. Allein schon die Entscheidung zwischen verschiedenen Frühstücksflocken lähmte ihn. Am Telefon, damals, als er noch anrief, hatte er sich stundenlang über all die Pläne ausgelassen, die er hatte, wobei er es nie geschafft hatte, bei einem einzigen auch nur den ersten Schritt zu unternehmen.
»Ich dachte, du hättest es gewusst. Tut mir leid.«
»Muss es nicht. Es ist ja nicht so, dass man es nicht hätte kommen sehen. Überraschend ist doch eigentlich nur, dass er es so lange geschafft hat. Habt ihr zwei euch gut verstanden?«
»Nicht lange. Ich hab’s versucht. Ich hab vorbeigeschaut, wo immer er auch untergekommen ist, hab
nach ihm gesehen, hab versucht, dafür zu sorgen, dass er etwas aß, dass er sich auch mal ausruhte.«
»Aber man kann nicht …«
»Nein«, sagte sie. »Man kann nicht. Wie du sagst: Wir ermatten. Oder sind einfach nur erschöpft.«
Kapitel Zehn
»Tut mir leid, ich erinnere mich nicht an Sie. Sollte ich?« Seine Augen bewegten sich ziellos durch den Raum. Wärter hatten mir gesagt, dass er inzwischen fast vollkommen erblindet sei. Wenn ich sprach, bewegten seine Augen sich für einen Moment in meine Richtung. Dann drifteten sie wieder weg.
Wegen seiner Blindheit war Lou Winter von den übrigen Insassen getrennt worden. Aber ein-oder zweimal waren sie trotzdem an ihn herangekommen, wie die flügelförmige Narbe belegte, die eine Gesichtshälfte zerteilte. Knackis, die so etwas wie ein Gewissen nicht kennen, Menschen, die wegen einer vermeintlichen Beleidigung Kehlen aufschlitzen und wegen einer Busfahrkarte eine Großmutter ermorden, können zu fanatischen Moralisten werden, sobald es um Kinderschändung geht.
Ich sagte ihm, wer ich war.
»Tut mir leid, aber ich kann mich an vieles von damals nicht mehr erinnern.« Die Wärter erzählten mir, dass er über die Jahre eine Reihe kleiner Schlaganfälle gehabt hatte. »Alle sagen, das wäre wohl auch besser so. Ich weiß nicht, wie sie das meinen. Danke jedenfalls, dass Sie gekommen sind.«
Nach kurzer Unterbrechung fügte er hinzu: »Gibt es etwas, das ich für Sie tun kann?«
»Bin nur vorbeigekommen, um Hallo zu sagen.«
Einen Moment lang spürte ich, wie er sich anstrengte, spürte seine Willenskraft. Wenn er es nur zu packen bekäme, wenn er sich nur genug konzentrieren könnte … Doch seine Augen wanderten weiter, die Vorhänge blieben geschlossen, das kurze Aufleuchten war vorbei.
»Ich habe Ihnen das hier mitgebracht.«
Er streckte eine Hand aus, orientierte sich an den Geräuschen und fand die Schachtel, die ich über den Tisch schob.
»Es ist nichts Großartiges. Ein paar Pfefferminzbonbons und Marshmallows, von denen die Wärter sagten, Sie würden sie mögen. Toilettenartikel, ein paar andere Dinge.«
Aber er hatte das Totem gefunden, die winzige, aus Sandelholz geschnitzte Katze, die Al mir vor so vielen Jahren geschenkt hatte, und hörte mir nicht mehr zu. Er hielt sie dicht an sein Gesicht, roch daran, rieb sie an seiner Wange, dort, wo die Narbe sich nach unten zog. Ich sagte ihm, was es war. Dass ein Freund sie mir gegeben hätte.
»Und jetzt geben Sie sie mir?«
Ich nickte, sagte dann ja.
»Danke.« Er wechselte das Totem von einer Hand in die andere. »Dann waren wir also Freunde? Ich meine, sind wir?«
»Eher nicht. Aber wir kennen uns schon sehr lange.«
»Tut mir leid … so unendlich leid, dass ich mich nicht erinnere, nicht erinnern kann.«
Er hielt das Totem hoch. »Es ist wunderschön, stimmt’s? Klein und wunderschön. Das spüre ich.«
»Brauchen Sie irgendwas, Lou? Gibt es etwas, das ich für Sie tun kann?«
»Sehr freundlich von Ihnen, mein Sohn. Aber nein, danke.« In diesem Augenblick hätte ich geschworen, dass er mich direkt anblickte, dass er mich sehen konnte. Dann irrten seine Augen wieder weiter. Er schloss die Hand über der Sandelholz-Katze. »Ich hab hier alles.« Er nickte. »Jawohl, Sir. Hab hier alles.«
J.T. stellte keine Fragen, als ich zum Wagen zurückkehrte. Doch aus irgendeinem Grund fing ich an, ihr von Lou Winter zu erzählen, als wir Memphis hinter uns ließen, über meine ersten Monate bei der Polizei, darüber, wie hart es gewesen war, durch diese Gefängnistore und -türen zu gehen. Dann saßen wir eine ganze Weile schweigend nebeneinander, bis sie schließlich mit einem Blick auf das Schild, das uns in Sweetwater und den
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