Twin Souls - Die Verbotene: Band 1
ihr, unsere Tasche schlug bei jedem Schritt gegen unsere Hüfte, ein schockierend roter Fleck inmitten von Nornands Silber und Weiß. Was würde der Paketbote seinen Freunden über das leichenblasse Mädchen in der verknitterten Schuluniform erzählen?, fragte ich mich.
Was würde er über uns sagen, die wir hier eingesperrt waren, während er bereits lange zu Hause sein würde?
Wir liefen und liefen und liefen durch die endlosen Gänge. In der Nornand Klinik herrschte scheinbar nicht so viel Betrieb wie in den Krankenhäusern, die wir als Kinder besucht hatten. Es gab ein paar Krankenschwestern, die in der Tür stehend miteinander plauderten, und einmal sahen wir einen Mann in einem weißen Arztkittel vorbeihasten, aber das war auch schon alles. Keine Leute in Straßenkleidung, die besorgt vor Untersuchungsräumen warteten, keine Mütter oder Väter oder Erwachsene egal welcher Art, abgesehen von den Krankenschwestern und Ärzten. Keine Patienten. Außer uns. Einmal riskierte Addie einen Blick auf den Chip in unserer Tasche, aber er war kalt und tot.
Schließlich blieb die Krankenschwester vor einer Tür stehen, auf der in kleinen schwarzen Ziffern die Zahl 347 stand.
»Dr. Wendle?«, sagte sie und klopfte.
Man hörte es rascheln, ehe eine Stimme erwiderte: »Ja? Kommen Sie herein.«
Die Schwester öffnete die Tür und scheuchte uns ins Zimmer. »Das hier ist Addie, Dr. Wendle. Mr Conivent hat sie gerade zu uns gebracht.«
Dr. Wendle war ein kleiner, stämmiger Mann mit dunkelbraunen Haaren, die alle über eine offensichtlich kahle Stelle gekämmt waren. An jedem anderen Tag hätte Addie beim Anblick einer solchen Frisur belustigt geschnaubt. Er musterte uns mit zusammengekniffenen Augen durch eine Brille mit dickem Rand, ehe er von seinem Schreibtischstuhl aufsprang. Sein Arztkittel flatterte hinter ihm her.
»Ach, ja, ja«, sagte er und schüttelte uns die Hand. Sein Blick huschte über uns hinweg: unser Gesicht, unsere Hände, unsere Beine – als wären wir irgendein weiterer archäologischer Fund. »Mr Conivent hat mir gesagt, dass ich mit dir rechnen soll.«
Ich wünschte, jemand würde uns sagen, womit wir zu rechnen hatten.
Die Krankenschwester versuchte, uns den Matchbeutel abzunehmen, und als Addie sich sträubte, lächelte sie verständnisvoll. »Ich stelle ihn in dein Zimmer, Liebes. Dort ist er gut aufgehoben. Keine Bange.«
Sie zerrte ein letztes Mal heftig an dem Beutel. Er entglitt uns und, aus dem Gleichgewicht gebracht, gerieten wir ins Schwanken. Ohne die Tasche fühlte ich mich klein und nackt.
»Komm«, sagte Dr. Wendle, als die Krankenschwester ging. »Nimm dir einen Stuhl.«
Wir sahen uns um und entdeckten nichts außer einem großen Metallstuhl, der quietschend über den Boden schrammte, als wir ihn herüberzogen. Dr. Wendle setzte sich lächelnd auf seinen eigenen Platz. Der Stuhl mit der hohen Rückenlehne ließ ihn wie einen Zwerg erscheinen. »Ich wollte dich ein paar Dinge fragen, ehe wir mit den Untersuchungen beginnen.« Er rückte seine Brille zurecht und beugte sich vor. Keine Einleitung. Kein: Wie war dein Flug? Du musst müde sein. Wo kommst du her? Nur der Eifer in seinem Blick, der bewirkte, dass ich mich fühlte wie ein Falter in der Sekunde, ehe er aufgespießt wird. »Als Erstes, wie bist du mit Eva zurechtgekommen?«
Addie fuhr zurück. »Was?«
»Eva«, wiederholte er, sein Lächeln wurde etwas schwächer. Er tippte auf eines der Dutzend Blätter, die auf seinem Schreibtisch verteilt lagen. »Hier steht, du hattest große Probleme, Frieden zu finden – hättest ihn bis zu deinem zwölften Geburtstag nicht gefunden, habe ich recht?«
Addie nickte nicht, sagte nichts, rührte sich nicht einmal, aber der Arzt schien ihr Schweigen als Einverständnis zu deuten.
»Also sind es jetzt beinah drei Jahre. Ehrlich, ich kann nicht fassen, dass es schon so lange so geht. Aber was soll ich sagen? Die Leute werden träge, die Behörden nachlässig, oder … nun, egal.« Er legte die Fingerspitzen seiner Hände aneinander. Sein Lächeln wurde wieder breiter. »Also hier ist dein Chance. Erzähl es mir. Wie bist du mit Eva zurechtgekommen?«
Ich hätte darauf vorbereitet sein müssen. Was sich am Abend zuvor mit Mr Conivent abgespielt hatte, hätte mich auf alles vorbereiten müssen. Aber mein Name auf Dr. Wendles Zunge ließ trotzdem Wellen der Übelkeit über mich hereinbrechen.
»Kein Grund schüchtern zu sein«, sagte er. »Das hier ist alles streng vertraulich.«
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