Twin Souls - Die Verbotene: Band 1
Akte durch. Die Papiere darin ergaben einen Stapel von gut einem Zentimeter Dicke, manche waren auf offiziell aussehendem Papier gedruckt mit schicken Briefköpfen, bei anderen handelte es sich um handgeschriebene Notizen auf Zetteln mit Eselsohren. Addie verlagerte ihr Gewicht, dann fluchte sie, als durch die Bewegung die Hälfte der Blätter von unserem Schoß zu Boden rutschte. Sie schimpfte weiter leise vor sich hin, als sie die Blätter aufsammelte und zurück in die Akte stopfte. Ich betete, dass Dr. Lyanne kein besonderes Ablagesystem hatte, das wir gerade durcheinanderbrachten.
Mit einem Gefühl von Déjà-vu landete unsere Hand auf einem Blatt Papier, an dessen oberer Ecke ein Foto heftete.
Brons, Eli
Hybrid
Wir übersprangen die grundlegenden Eckpunkte und lasen den ausführlichen Bericht darunter. Jemand hatte Notizen an die Ränder und zwischen die Textzeilen gekritzelt. Tief in unserer Magengrube hatte sich sowieso schon eine bittere Flüssigkeit gesammelt – sie toste dort, seit wir den ersten Schritt in Dr. Lyannes Büro riskiert hatten. Doch jetzt beschlich mich eine völlig neue Abscheu, ein schreckliches Gefühl, das zur Hälfte aus Übelkeit und zur Hälfte aus Schmerz bestand. Unsere Hand fuhr zum Mund, drückte gegen unsere Lippen, dann gegen unsere Zähne. Wir bissen zu. Ich hätte nicht sagen können, ob unsere Tränen daher rührten oder von dem Schmerz, der mit Tinte in Elis Bericht gebannt war. Dem Geheimnis, das Refcon und die Impfungen und alle Kinder hier in der Nornand Klinink verband. Und sämtliche Kinder unseres Landes.
‹Mein Gott›, flüsterte Addie. ‹Eva…›
Ein Geräusch ließ sie verstummen. Ein unterdrückter Schrei. Dann hörten wir das Quietschen von Schuhsohlen auf dem gefliesten Boden. Unser Kopf fuhr hoch.
Der Spalt zwischen Tür und Türrahmen war leer.
Lissa war fort.
Jeder Nerv – jeder Nerv, jeder Muskel, jede Sehne in unserem Körper – zuckte und war im nächsten Moment zum Zerreißen angespannt.
Wir pfefferten die Akte zurück in den Schrank und ließen ihn zugleiten. Fieberhaft suchten wir den Raum nach einem Versteck ab, irgendeinem Versteck. Es gab keins. Um das zu erkennen, benötigten wir nicht mehr als einen kurzen Blick. Wir hatten es von dem Moment an gewusst, als wir das Büro betraten. Der Schreibtisch war massiv, aber gebaut wie ein Tisch, ohne eine Rückwand. Vor dem Fenster hingen keine Vorhänge. Die beste Möglichkeit wäre noch gewesen, uns auf der anderen Seite des Aktenschrankes zusammenzukauern, und nicht einmal dafür blieb uns genügend Zeit.
Die Tür ging auf.
Der Offizielle von der Komission – der Mann, der uns im Wartezimmer gepackt hatte, dessen Finger sich immer noch als blaue Flecken auf unserem Handgelenk abzeichneten – betrat den Raum.
Kapitel 23
Für den Bruchteil einer Sekunde, einer Millisekunde, bewegten wir uns nicht. Der Mann bewegte sich nicht. Er verließ den Türrahmen nicht. Wir schrien nicht.
Schreien. Ein Lachen stieg tief in unsere Kehle auf, drängte hinaus. Als ob das etwas ändern würde. Als ob das helfen würde.
Der Mann gab jemandem hinter sich ein Zeichen, ohne den Blick von uns abzuwenden. »Bringen Sie das andere Mädchen hier rein und schaffen Sie die übrigen Patienten zusammen mit dieser Krankenschwester vom Flur weg.« Er sprach in dem gleichen leisen, emotionslosen Ton, den wir am Tag zuvor bereits von ihm gehört hatten.
Schritte eilten über den gefliesten Boden. Devon rief etwas. Dann war Lissa mit uns im Zimmer, hereingezerrt von der weiblichen Offiziellen. Wir sahen, wie ihre Fingernägel sich in Lissas Schulter gruben. Die Tür knallte hinter ihnen zu.
»Hol Conivent«, sagte der Mann. Die Frau nickte, ließ Lissa los und ging. Dann waren nur noch wir, Lissa und dieser Mann in Dr. Lyannes Büro.
Er beobachtete uns, sein Blick wanderte von Addie und mir zu Lissa. Er war nicht größer als Mr Conivent. Hatte keine breiteren Schultern, war nicht stämmiger. Er war angezogen, als wäre er auf dem Weg ins Konzert – ein Hemd mit Manschettenknöpfen, eine dunkle Weste, eine Hose mit Bügelfalten, schwarze Schuhe. Unser Handgelenk pochte schmerzhaft bei der Erinnerung an seine Berührung. Und unsere Brust schmerzte von dem Ausdruck auf seinem Gesicht. Dem Ausdruck, der recht unverhohlen besagte, dass, egal wie die Situation war, egal, was wir getan hatten, egal, was wir glaubten, tun zu können, wir niemals, niemals gegen ihn gewinnen würden. Wir könnten ihn bis aufs Blut
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