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Über den Fluß und in die Wälder

Über den Fluß und in die Wälder

Titel: Über den Fluß und in die Wälder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ernest Hemingway
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seinem fehlenden Auge, mit der Binde darüber und seinem weißen Gesicht, so weiß wie der Bauch einer Seezunge, die man gerade eben auf dem Markt umgedreht hat, so daß die braune Seite nicht zu sehen war, ausgesehen, als ob er 30 Stunden tot war, und gerufen: «Morire non e basta», und der Colonel, damals ein Lieutenant, hatte gedacht: Bockmist, was wollen die denn sonst noch von uns?
    Aber er hatte der Rede zugehört, und als der Oberstleutnant d’Annunzio – Schriftsteller und Nationalheld, beglaubigt und für wahr befunden, wenn man durchaus Helden haben muß, und der Colonel glaubte nicht an Helden – um einen Augenblick Stille für unsere glorreichen Toten bat, hatte er strammgestanden und salutiert. Aber sein Zug, der der Rede nicht gefolgt war, damals gab es noch keine Lautsprecher, und sie standen gerade so ein bißchen außer Hörweite, erwiderte wie ein Mann auf die Pause für den Augenblick Stille für unsere glorreichen Toten mit einem starken und schallenden «Evviva d’Annunzio!»
    D’Annunzio hatte sie schon früher nach Siegen und vor Niederlagen angeredet, und sie wußten, was sie zu rufen hatten, wenn der Redner eine Pause machte.
    Der Colonel, der damals ein Lieutenant war und seinen Zug liebte, hatte eingestimmt und im Befehlston hervorgestoßen: «Evviva d’Annunzio!» und hatte hiermit alle, die der Rede, Abhandlung oder Ansprache nicht gefolgt waren, freigesprochen und versucht, in dem engen Rahmen, in dem ein Lieutenant irgend etwas versuchen kann – bis auf eine unhaltbare Stellung zu halten oder seine eigene Aufgabe bei einem Angriff mit Verstand durchzuführen –, ihre Schuld zu teilen.
    Aber jetzt fuhren sie an dem Haus vorbei, in dem der arme, ramponierte alte Kerl mit seiner großen, traurigen und niemals genügend geliebten Schauspielerin gelebt hatte, und er dachte an ihre wunderschönen Hände und ihr so wandlungsfähiges Gesicht, das nicht schön war, das einem aber alles an Liebe, Ekstase, Entzücken und Trauer zu vermitteln wußte, und wie die Biegung ihres Arms einem das Herz brechen konnte, und er dachte: Herrgott, sie sind tot, und ich weiß noch nicht einmal, weder wo die eine noch wo der andere begraben ist. Aber ich hoffe stark, daß sie sich in dem Haus da ordentlich amüsiert haben.
    «Jackson», sagte er, «diese kleine Villa da links gehörte Gabriele d’Annunzio, der ein großer Schriftsteller war.»
    «Jawohl, Sir», sagte Jackson. «Freut mich sehr, etwas von ihm zu erfahren. Ich habe niemals von ihm gehört.»
    «Ich werde Ihnen sagen, was er geschrieben hat, falls Sie je was von ihm lesen wollen», sagte der Colonel. «Es gibt ein paar gute englische Übersetzungen.»
    «Danke, Sir», sagte Jackson. «Ich möchte gern mal was von ihm lesen, wenn ich mal Zeit habe. Er hat ein hübsches, wohnlich aussehendes Haus. Wie sagten Sie doch, wie war der Name?»
    «D’Annunzio», sagte der Colonel, «Schriftsteller.»
    Weder wollte er Jackson verwirren noch ihn in Verlegenheit setzen, wie er’s bereits mehrere Male an diesem Tag getan hatte, deshalb fügte er nur zu sich selbst sprechend hinzu: Schriftsteller, Dichter, Nationalheld, Schöpfer der faschistischen Dialektik, makaberer Egoist, Flieger, Befehlshaber oder Mitfahrer im ersten Schnellboot, Oberstleutnant der Infanterie, ohne zu wissen, wie man eine Kompanie oder einen Zug ordentlich befehligt, der große, wunderbare Verfasser von Notturno, der uns Respekt und Ekel einflößt.
    Jetzt lag die Gondelüberfahrtstelle von Santa Maria del Giglio vor ihnen, und dahinter war der hölzerne Anlegesteg des Gritti.
    «Das ist das Hotel, in dem wir wohnen, Jackson.»
    Der Colonel wies auf den dreistöckigen, rosenfarbenen, hübschen kleinen Palazzo, der an den Kanal grenzte. Es war eine Dependance vom Grand Hotel gewesen, aber jetzt war es ein selbständiges Hotel, und zwar ein sehr gutes. Wahrscheinlich war es das beste in einer Stadt erstklassiger Hotels, wenn man Kriecherei und Getue und Lakaienwirtschaft nicht mochte, und der Colonel liebte es.
    «Sieht mir okay aus, Sir», sagte Jackson.
    «Es ist okay», sagte der Colonel.
    Das Motorboot landete mit einem Schwung an den Pfählen des Stegs. Jede Bewegung, die es machte, dachte der Colonel, ist ein Triumph der Tapferkeit der alternden Maschine. Wir haben jetzt keine Kriegsrosse mehr wie den alten ‹Traveller› oder Marbots ‹Lysette›, die persönlich bei Eylau mitkämpften. Wir haben die Tapferkeit ausgedienter, verbrauchter Pleuelstangen, die unter keiner

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