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Über den Fluß und in die Wälder

Über den Fluß und in die Wälder

Titel: Über den Fluß und in die Wälder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ernest Hemingway
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zurückerinnern, my Colonel.»
    «Ich kann mich so weit zurückerinnern, daß es, weiß Gott, nicht mehr komisch ist.»
    «Erinnern Sie sich an alles von früher?»
    «Alles», sagte der Colonel. «Der Mann hieß Carroll.»
    «Ich hab von ihm gehört.»
    «Sie waren damals noch nicht auf der Welt.»
    «Glauben Sie, daß man auf der Welt gewesen sein muß, um zu wissen, was in dieser Stadt passiert ist, Colonel?»
    «Sie haben völlig recht. Sagen Sie mir, weiß jeder immer alles, was in dieser Stadt passiert?»
    «Nicht jeder. Aber beinah jeder», sagte der Kellner. «Schließlich, Laken sind Laken, und irgendwer muß sie wechseln, und irgendwer muß sie waschen. Natürlich spiele ich nicht auf die Laken in einem Hotel wie diesem hier an.»
    «Ich hab mich verdammt gut in meinem Leben auch ohne Laken amüsiert.»
    «Natürlich. Aber die Gondoliere, die wohl die gefälligsten und meines Erachtens nach die besten Leute sind, die wir haben, reden untereinander.»
    «Natürlich.»
    «Dann die Geistlichen. Während sie niemals das Beichtgeheimnis verletzen würden, unterhalten sie sich doch miteinander.»
    «Das ist anzunehmen.»
    «Ihre Haushälterinnen unterhalten sich miteinander.»
    «Das ist ihr gutes Recht.»
    «Dann die Kellner», sagte Arnaldo. «Die Leute reden bei Tisch, als ob der Kellner stocktaub wäre. Der Kellner macht, seiner Berufsethik folgend, keinen Versuch, eine Unterhaltung zu belauschen, aber manchmal kann er nicht umhin, etwas mit anzuhören. Und natürlich unterhalten auch wir uns untereinander. Selbstverständlich niemals in diesem Hotel. Ich könnte damit fortfahren.»
    «Ich glaube, ich habe es erfaßt.»
    «Ganz zu schweigen von den Coiffeuren und Friseuren.»
    «Und was gibt’s jetzt Neues auf dem Rialto?»
    «Das wird man Ihnen alles bei Harry erzählen, bis auf das Stückchen, in dem Sie eine Rolle spielen.»
    «Spiele ich eine Rolle?»
    «Alle wissen alles.»
    «Na, es ist eine verdammt angenehme Geschichte.»
    «Manche Leute verstehen den Torcello-Teil nicht recht.»
    «Verflucht noch mal, den versteh ich selber manchmal nicht.»
    «Wie alt sind Sie, Colonel, falls es nicht indiskret ist, zu fragen?»
    «Fünfzig plus eins. Warum haben Sie sich nicht beim Portier erkundigt? Ich hab dort einen Fragebogen für die Questura ausgefüllt.»
    «Ich wollte es von Ihnen selbst hören und Sie beglückwünschen.»
    «Ich weiß nicht, wovon Sie reden.»
    «Erlauben Sie mir auf jeden Fall, Ihnen zu gratulieren.»
    «Das muß ich ablehnen.»
    «Man hat Sie sehr gern in dieser Stadt.»
    «Danke. Das ist ein sehr großes Kompliment.»
    In dem Augenblick surrte das Telefon.
    «Ich werde rangehen», sagte der Colonel und hörte Ettores Stimme fragen: «Wer ist am Apparat?»
    «Colonel Cantwell.»
    «Die Stellung ist gefallen, my Colonel.»
    «Nach welcher Seite sind sie gegangen?»
    «Nach der Piazza zu.»
    «Gut. Ich komme sofort.»
    «Soll ich einen Tisch reservieren?»
    «Einen Ecktisch», sagte der Colonel und hing an. «Ich gehe zu Harry.»
    «Weidmannsheil.»
    «Ich werde übermorgen vor Tagesgrauen mit einer hotte in der Marsch auf Entenjagd gehen.»
    «Das wird mächtig kalt sein.»
    «Vermutlich», sagte der Colonel und zog seinen Regenmantel an und besah sich, als er seine Mütze aufsetzte, sein Gesicht im Glas des hohen Spiegels.
    «Ein häßliches Gesicht», sagte er zu dem Spiegelglas. «Haben Sie je ein häßlicheres gesehen?»
    «Ja», sagte Arnaldo. «Meines. Jeden Morgen, wenn ich mich rasiere.»
    «Wir sollten uns beide im Dunkeln rasieren», sagte der Colonel zu ihm und ging zur Tür hinaus.

9
    Als Colonel Cantwell aus der Tür des Gritti Palace Hotel trat, schritt er hinaus in das letzte Sonnenlicht dieses Tages. Auf der entgegengesetzten Seite des Platzes war noch Sonne, aber die Gondoliere suchten gegen den kalten Wind Zuflucht und lungerten lieber im Schutz des Gritti herum, an Stelle das letzte Überbleibsel von Sonnenwärme auf der windgepeitschten Seite des Platzes auszukosten. Der Colonel wandte sich, nachdem er dies zur Kenntnis genommen hatte, nach rechts und ging den Platz entlang bis zu der gepflasterten Straße, die rechts abbog. Bevor er einbog, blieb er einen Augenblick stehen und blickte auf die Kirche Santa Maria del Giglio.
    Was für ein wunderbarer, kompakter, in sich geschlossener und doch wie zum Flug bereiter Bau, dachte er. Ich hätte nie geglaubt, daß eine kleine Kirche wie ein Jagdflugzeug aussehen könnte. Muß mal feststellen, wann sie gebaut worden ist und

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