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Über den Fluß und in die Wälder

Über den Fluß und in die Wälder

Titel: Über den Fluß und in die Wälder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ernest Hemingway
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Profil, das dir oder jedem anderen das Herz brechen konnte, und ihr dunkles, lebendiges Haar fiel ihr bis über die Schultern.
    «Guten Abend, meine Wunderschöne», sagte der Colonel.
    «Ach, guten Abend», sagte sie. «Ich hatte schon Angst, ich hätte dich verpaßt. Es tut mir so leid, daß ich mich verspätet habe.»
    Ihre Stimme war tief und zart, und sie sprach ihr Englisch mit Vorsicht.
    «Ciao, Andrea», sagte sie. «Wie geht es Emily und den Kindern?»
    «Wahrscheinlich genauso wie heute mittag, als ich dir die gleiche Frage beantwortet habe.»
    «Entschuldige», sagte sie und errötete. «Ich bin so aufgeregt und sage immer das Verkehrte. Was hätte ich sagen sollen? Hast du dich den ganzen Nachmittag lang hier gut unterhalten?»
    «Ja», sagte Andrea. «Mit meinem alten Freund und strengsten Kritiker.»
    «Wer ist das?»
    «Schottischer Whisky mit Soda.»
    «Wahrscheinlich kann er nicht anders und muß mich eben aufziehen», sagte sie zu dem Colonel. «Aber du wirst mich nicht aufziehen, nicht wahr?»
    «Setz dich mit ihm da rüber an den Ecktisch und unterhalte dich mit ihm. Ich hab genug von euch beiden.»
    «Ich hab zwar nicht genug von Ihnen», sagte der Colonel, «aber ich halte es für eine gute Idee. Wollen wir etwas im Sitzen trinken, Renata?»
    «Furchtbar gern, wenn Andrea nicht böse ist.»
    «Ich bin niemals böse.»
    «Würdest du einen mit uns trinken, Andrea?»
    «Nein», sagte Andrea. «Geht mal rüber an euren Tisch. Ich hab’s satt, ich mag ihn nicht länger unbesetzt sehen.»
    «Auf Wiedersehen, caro. Danke für den Drink, den wir nicht getrunken haben.»
    «Ciao, Ricardo», sagte Andrea, und das war alles.
    Er wandte ihnen seinen eleganten langen, schlanken Rücken zu und blickte in den Spiegel, der hinter jeder Theke angebracht ist, damit man feststellen kann, wenn man zu viel trinkt, und was er da sah, mißfiel ihm entschieden. «Ettore», sagte er, «bitte schreiben Sie den Quatsch auf meine Rechnung.»
    Er ging hinaus, nachdem er gemächlich auf seinen Mantel gewartet hatte, hineingefahren war und dem Mann, der ihn brachte, genau so viel Trinkgeld gab, wie er zu bekommen hatte – plus zwanzig Prozent.
    An dem Tisch in der Ecke sagte Renata: «Glaubst du, daß wir seine Gefühle verletzt haben?»
    «Nein, er liebt dich und hat mich gern.»
    «Andrea ist zu nett. Und du bist auch zu nett.»
    «Kellner», rief der Colonel; dann fragte er: «Willst du auch einen dry Martini?»
    «Ja», sagte sie. «Furchtbar gern.»
    «Zwei Martinis, extra dry», sagte der Colonel. «Montgomerys, fünfzehn zu eins.»
    Der Kellner, der in der Wüste gewesen war, lächelte und verschwand, und der Colonel wandte sich an Renata.
    «Du bist auch nett», sagte er. «Außerdem bist du auch sehr schön und bezaubernd, und ich liebe dich.»
    «Das sagst du immer, und ich weiß nicht, was es bedeutet, aber ich höre es gern.»
    «Wie alt bist du jetzt?»
    «Beinahe neunzehn. Warum?»
    «Und du weißt nicht, was das bedeutet?»
    «Nein, woher sollte ich denn? Alle Amerikaner sagen es zu einem, wenn sie sich verabschieden. Anscheinend halten sie’s für angebracht. Aber ich liebe dich auch sehr, was immer das auch sein mag.»
    «Wir wollen uns amüsieren», sagte der Colonel. «Wir wollen überhaupt an gar nichts denken, ja?»
    «Das mag ich gern. Zu dieser Tageszeit kann ich sowieso nicht sehr gut denken.»
    «Hier kommt etwas zu trinken», sagte der Colonel. «Denk daran, nicht ‹Tschin Tschin› zu sagen.»
    «Das weiß ich noch von früher. Ich sage niemals ‹Tschin Tschin› oder ‹Zum Wohl› oder ‹Ex›.»
    «Wir heben nur die Gläser, und wenn du’s wünschst, können wir anstoßen.»
    «Ich wünsche es», sagte sie.
    Die Martinis waren eiskalt und richtige Montgomerys, und nachdem sie angestoßen hatten, fühlten sie, wie sie ihren ganzen Körper durchgluteten.
    «Und was hast du gemacht?» fragte der Colonel.
    «Gar nichts. Ich warte immer noch darauf, in die Pension zu fahren.»
    «Wohin soll’s denn gehen?»
    «Das weiß der Himmel, wohin man mich schickt, um Englisch zu lernen.»
    «Dreh einmal den Kopf zur Seite und heb das Kinn für mich.»
    «Du machst dich nicht über mich lustig?»
    «Nein, ich mach mich nicht lustig.»
    Sie wandte den Kopf und hob das Kinn, ohne Eitelkeit, ohne Koketterie, und der Colonel fühlte, wie sein Herz sich umdrehte, als ob irgendein schlafendes Tier in seinem Bau hinübergerollt wäre und das zweite, dicht neben ihm schlafende Tier süß erschreckt

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