Ueberdosis
Aluminiumschreibtisch vor dem Fenster mit Blick auf die Uni-Wiesen, die der Regen in einen grün-braunen Morast verwandelt hatte. An der Wand links vom Schreibtisch kletterten Metallregale bis zur Decke hinauf und bogen sich unter der Last der Büchermassen.
Die Bücher waren der einzige Hinweis darauf, daß das Apartment eine Wohnung und nicht nur Experimentierfeld eines verrückten Designers war, dessen Vorstellung von Wohnkultur sich auf den Chic der konsequenten Ungemütlichkeit beschränkte.
»Die meisten persönlichen Sachen meines Sohnes befinden sich in seinem Zimmer in unserer Villa«, erklärte Elvira Maaßen. »Das hier« – und in diesem das lag die gleiche Verachtung, die sie gestern seinem Scotch entgegengebracht hatte – »hat er nur gelegentlich zum Arbeiten genutzt. Es war nicht sein Zuhause. Ich weiß wirklich nicht, warum er sich überhaupt dieses Apartment genommen hat. Vermutlich aus einer Laune heraus. Oder weil …«
Markesch wartete, aber sie sprach nicht weiter.
Er trat an die Regale und zog einige Bücher heraus. Sie trugen so interessante Titel wie Säuren und Basen, Räumliche Struktur organischer Moleküle oder Chemische Oszillationen.
Ausnahmslos Fachliteratur. Keine Belletristik. Natürlich, Michael Maaßen war Chemiestudent gewesen. Aus Leidenschaft, wie Anna Singer gesagt hatte.
»Er war sehr begabt«, erklärte die Frau. »Er hätte ein großer Chemiker werden können.«
Die Bücher schienen nach keinem System geordnet zu sein – zumindest nach keinem System, das für Markesch durchschaubar gewesen wäre – und etwa ein Dutzend lagen zwischen dem Schreibtisch und der Regalwand auf dem Boden, teilweise aufgeschlagen.
Elvira Maaßen drängte sich an ihm vorbei und sammelte die Bücher auf. Aus einem der Bände fiel ein Zettel, und Markesch griff danach, in der kindlichen Hoffnung, daß der Zufall ihm einen entscheidenden Hinweis in die Hände spielte, aber es war nur die Rechnung einer Chemikaliengroßhandlung über mehrere Liter Salzsäure und Phosphor. Offenbar Material für die chemischen Experimente, die Michael im Labor der Pharma-Firma durchgeführt hatte.
»Wissen Sie, was Ihr Sohn im Intercity-Restaurant wollte?« fragte Markesch. »Hat er jemand erwartet? Wollte er jemand vom Bahnhof abholen?«
Sie machte eine müde Handbewegung. »Ich hatte ihn schon seit einer Woche nicht mehr gesehen. Sein Studium … Manchmal glaube ich, daß er Tag und Nacht studiert hat. Ich nehme an, sein Mörder hat ihn zum Bahnhof gelockt.«
Sein Mörder. Verdammt, was machte sie so sicher, daß ihr Sohn kein Junkie gewesen war, daß es einen Mörder gab? Sie hatte keinen einzigen Beweis für ihren Verdacht. Ihre Sicherheit hatte etwas Religiöses an sich, etwas Fanatisches.
Aber warum, fragte sich Markesch, hat sich der Junge ausgerechnet auf der Bahnhofstoilette den Schuß gesetzt? Warum nicht hier?
Er zuckte die Schultern. Wer wußte schon, wie ein Fixer dachte. Vielleicht hatte er den Schuß nötig gehabt. Vielleicht hatte er am Bahnhof neuen Stoff gekauft und es nicht erwarten können, die Ware zu testen. Vielleicht war es ihm einfach egal gewesen, wo er sich die Nadel in die Vene jagte. Fixer handelten nicht rational. Sie waren in einem Reiz-Reaktions-Schema gefangen, wie Pawlowsche Hunde. Der Reiz war das Heroin, die Reaktion das Ansetzen einer Fixe.
Trotzdem … Wenn man von einem Mord ausging, hatte der Tatort Bahnhofstoilette eine perverse Logik. Die Öffentlichkeit – und die Polizei – war seit Jahren an die Bilder von toten Junkies auf den gekachelten Böden schmutziger Toiletten gewöhnt. Niemand dachte sich etwas dabei. Man nahm es kaum noch zur Kenntnis.
Sein Blick fiel auf den Schreibtisch, auf einen leeren Standbilderrahmen, wanderte weiter zum Aluminiumpapierkorb, in dem ein zusammengeknülltes Foto lag. Als er sich bückte und das Foto herausfischte, hörte er, wie Elvira Maaßen hinter ihm scharf einatmete. Ohne sich umzudrehen, glättete er das Bild.
Es zeigte ein junges, hübsches Mädchen mit goldblonden Haaren, großen Elfenaugen und fast golden schimmerndem Teint.
»Susanne Großmann, nicht wahr?« sagte er.
Wer hatte das Bild aus dem Rahmen genommen und fortgeworfen? Michael Maaßen? Oder seine Mutter?
»Ich weiß, was Sie denken«, sagte sie mit flacher Stimme. »Aber es ist nicht so. Ich … Es war eine Kurzschlußreaktion. Ich war enttäuscht. Ich hatte erwartet, daß Michael ein Bild von mir …« Sie lächelte zerknirscht. Das Lächeln paßte
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