Ueberleben als Verpflichtung - den Nazi-Moerdern entkommen
noch heute, mitzuerleben, wie sie mit Spannung der Handlung auf der Bühne folgen, wie sie mitgehen, wie sie mitleiden und wie sie am Schluß begeistert applaudieren – Ausdruck ihres Verständnisses für das, was das Stück ihnen sagen will.
Das blieb nicht ohne Folgen für mich. Schulen wandten sich an mich, baten, daß ich ihren Schülern über mein Leben als Verfolgte in der Nazizeit berichte, ihre Fragen beantworte, die sich hauptsächlich darum drehen, wie es zu dem Schrecklichen kommen konnte. Meist finde ich junge Menschen vor, die – anders als ihre Eltern und Großeltern – geradezu begierig sind, etwas darüber zu erfahren, die ohne Scheu ihre Fragen stellen. Es handelt sich um eine Generation, deren Eltern den Nationalsozialismus nicht mehr erlebten und in einer Zeit aufwuchsen, in der in den Schulen der alten Bundesrepublik die schlimme Vergangenheit nur selten zum Lehrstoff gehörte. Sie haben ihren Kindern nur wenig oder gar nichts über jene schreckliche Zeit zu sagen.
[…]
Das Theaterstück hat mich wieder nach Berlin gebracht. Dabei habe ich feststellen müssen, wie viel mich mit dieser Stadt verbindet, wie sehr ihre Atmosphäre meinem Wesen entspricht und daß das Berlinern die einzige Sprache ist, die ich wirklich beherrsche. Ich gebe aber zu, daß es in dieser Stadt Gegenden gibt, mit denen ich schlimme Erinnerungen verbinde und die ich meide. Bedeutender aber ist für mich die Bekanntschaft dieser jungen Generation, die sich so frei und offen gibt und die mir und meinem Anliegen so viel Sympathie entgegenbringt. Und dennoch: Nichts, gar nichts schien sich geändert zu haben, als Ende 1991 Rechtsradikale gegen Ausländer vorzugehen begannen. Es waren schlimme Bilder, die schon damals über den Bildschirm liefen und die mich unweigerlich zurückversetzten in jene Zeit, in der in Deutschland Mensch nicht gleich Mensch war. Wieder schlossen Deutsche ihre Fenster wie bei den Judenverfolgungen in den dreißiger Jahren, um nicht vom Brandgeruch oder den Schreien der Menschen belästigt zu werden, denen der Zufall eine dunkle Hautfarbe oder geschlitzte Augen beschert hat. Als in der Öffentlichkeit bekannt wurde, daß auch ich durch Schmähschriften belästigt und am Telefon durch antisemitische Hetzparolen beleidigt wurde, erhielt ich Hunderte von Briefen anderer Art, in denen Berliner ihr Entsetzen und ihre Scham darüber ausdrückten. Unter diesen Briefen waren auch Zuschriften von Kindern, die mich wissen ließen, daß sie zu mir stehen. „Wenn Sie mal Rat brauchen, dann kommen Sie zu uns“, schrieben Dreizehnjährige. „Wir helfen Ihnen, wenn Ihnen jemand etwas antun will.“ Diese Briefe und die Blumen, die Unbekannte vor meine Wohnungstür legten, ermutigten mich, gaben mir die Kraft, die ich brauche, um weiterhin vor jungen Menschen Zeugnis abzulegen über meine Vergangenheit und die ihres Landes, die für mich immer gegenwärtig bleibt.
Aber vor allem möchte ich der jungen Generation am Beispiel derjenigen, die ihren Kopf für uns riskierten, beweisen, daß es selbst im Nazi-Deutschland nicht nur schlechte Menschen gegeben hat. Nein, es gab jene, wenn auch viel zu wenige, die ganz sicher waren, daß jeder Mensch auf dieser Erde ein Recht auf Leben hat, gleich welcher Herkunft, gleich welcher Hautfarbe, gleich welcher Religion, und die trotz aller Gefahren für sie selbst entsprechend handelten.
Diese Menschen möchte ich der Öffentlichkeit nahebringen und sagen: Erkennen Sie diese Menschen als Helden an, ehren Sie sie, stellen Sie sie der Jugend als Vorbilder hin! Denn sie sind wahrhaftig ein Beispiel für Zivilcourage, eine Haltung, die die Lebensführung eines jeden von uns bestimmen sollte.
Verlorene Jugend
Jugend – was war das?
„Sechs Kinder will ich haben“, sagte ich zu dem verdutzten Gerd schon bei unserem ersten Zusammentreffen. Warum gerade sechs, konnte ich ihm auch nicht erklären. Es war ohnehin an der Zeit auszusteigen. Wir befanden uns in der S-Bahn. Gerd Kohbieter und ich besuchten die jüdische Mittelschule in der Großen Hamburger Straße 27. Wir waren beide 16 Jahre alt. Nach Schulschluß fuhren wir S-Bahn, der einzige Ort, der uns zum Händchenhalten und zu verliebten Gesprächen geblieben war.
Gerd war sehr groß für sein Alter. Er hatte eine schlanke, sportliche Figur und überragte die meisten seiner Klassenkameraden. Seine Bewegungen wirkten wie die eines älteren Galans, freundlich, höflich, beschützend. Er hatte blonde Haare, glasklare blaue
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