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Überleben auf Partys: Expeditionen ins Feierland (German Edition)

Überleben auf Partys: Expeditionen ins Feierland (German Edition)

Titel: Überleben auf Partys: Expeditionen ins Feierland (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Uschmann , Sylvia Witt
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Soldaten. Nachts schießt Opa sich gerne in den Schlaf, wie er das nennt, wenn er mit seinem alten Sturmgewehr im Bett liegt und immer wieder Schüsse auf Wände und Decke abgibt, bis der Schlaf ihn übermannt. Opa besitzt ein großes Tongefäß, das er jeden Morgen öffnet und am Abend wieder verschließt. Darin zerfetzte Uniformstücke, Granatensplitter, Patronenhülsen, Knochen, verbranntes Fleisch, Häuserreste, die, so Opa, einen Geruch nach Krieg in der Wohnung verströmen würden. Wann immer im Fernsehen von Unruhen berichtet wird, wird Opa von einer Euphorie erfasst, die man ihm sonst, wenn er eingefallen in seinem Rollstuhl vorm Fernseher sitzt und Berichte über Waldvögel und Naturvölker sieht, nicht mehr zutraut. Eine Euphorie, die umso größer ist, je näher der Unruheherd an Deutschland liegt. Euphorie drückt sich bei Opa dadurch aus, dass er sich immer wieder auf die Beinstümpfe schlägt. Diese Beinstümpfe, denen Opa so viel Liebe entgegenbringt wie nichts und niemandem sonst. Höchstens noch Rüdiger, einer Art Hund, der kriegsversehrt aussieht und einen Geruch nach Trümmerfrau verströmt. Gedankenverloren kann Großvater seine Stümpfe streicheln, mit Schmalz eincremen, sie kneten, küssen. Seine Stümpfe seien die einzige Möglichkeit, dem Krieg noch nahe zu sein, erklärt Opa oft mit feuchten Augen, wenn er die schartigen, vernarbten Enden berührt. Auch wir müssen oft die Stümpfe berühren, und dann fragt er: »Habe ich euch schon erzählt, wie der Krieg Opa die Beine stahl?«
    »Ganz schöne Beine hatte der Opa«, ergänzt Oma oft mit belegter Stimme, während sie sich die Handrücken auf die Augen presst. »Dem Opa seine Knie waren die schönsten hier inner Gegend. Ham alle gesagt.«
    »Ganz weiß«, sagt Opa noch, dann ist es still. Oma weint leise. Großvater sieht aus dem Fenster den Mond an.
    Merke ➙ Manches Menschen Hölle ist sein Himmelreich. Und an seinem Ehrentag gebietet es der Anstand, konsequent mitzuspielen.
    Fast jede Nacht träume er von seinen Beinen. Wie Tiere sie durch die Taiga schleppen. Manchmal müssen wir Enkel die Hosenbeine hochkrempeln, damit er unsere Beine berühren kann. Und auf die Frage, was er sich zum Geburtstag wünsche, entgegnet er meist: »Beine. Weiße Beine.«
    An seinem Geburtstag tragen wir Großvater, und Großvater trägt Uniform. So wie wir alle. Opa nennt uns dann auch nicht Buschi und Muppel, sondern nur noch Kameraden. Auch Mutter und Großmutter, die ihre langen Haare unter Baretten zu verbergen haben, und die Nächte zuvor draußen schlafen müssen, um nicht mehr nach Frau zu riechen, sondern nach Kamerad. Die Fenster der Wohnung sind ausgehängt, die Rahmen mit Ruß beschmiert – ganz Bombeneinschlag. Eine Schallplatte mit Geräuschen des Krieges läuft, Schüsse, Schreie, Explosionen, der Titel ist Programm. Jedes Jahr gibt es etwas zu trinken, das Großvater beharrlich Kaffee nennt. Das aber mit Kaffee, so wie wir ihn kennen, nur die bräunliche Färbung gemein hat. Statt Kuchen gibt es russische Zigaretten, die wir bei Opa gegen Speck und Kartoffeln eintauschen müssen.
    Später ist Opa dann am Fenster und hält Ausschau nach dem Feind. Meine Großeltern wohnen an einem Supermarkt. Sie überblicken einen großen Parkplatz, auf dem es für Opa nur so von Feinden wimmelt. Es hat schon oft Ärger gegeben wegen Großvater, der Kunden, die ihm auch nur ein wenig alliiert erschienen, mit Hülsenfrüchten oder Dosenmandarinen beworfen hat.
    »Angriff«, schreit Opa dann irgendwann, und wir Enkel müssen unter seinen alten Armeemantel und ihn tragen. Ihm die Illusion von Beinen vermitteln, die ihn schnell die Treppe runter, in den Garten hinter dem Haus tragen, wo das Geschenk meiner Eltern und meiner Onkel und Tanten auf Großvater wartet. Ein riesiger Schützengraben, in den wir Opa legen, ihn mit einer Decke verhüllen, um sibirische Nacht zu simulieren. Ihm Hemd und Hose mit Stieleis füllen, um stalingradschen Frost vorzugaukeln. Wäscheklammern an Nase und Fingern befestigen, um Erfrierungen vorzutäuschen. Meine Tante und meine Mutter machen laute Schussgeräusche, mein Vater läuft als Handgranate durch den Hof, explodiert mal hier, mal dort. Und Opa unter der Decke ist pure Hysterie. Die Arme wirbeln herum, die Narben der Stümpfe pulsieren purpurfarben. Spitze, erstickte Schreie sind zu hören. Ein feiner Geruch nach Herrenurin weht durch den Hinterhof.
    Was sagt die Wissenschaft? ➙ »Die elementare Erfahrung wiegt am schwersten

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