Überleben auf Partys: Expeditionen ins Feierland (German Edition)
ihrem jeweiligen Namen gerecht werden. Für Spezi wiederum ist die Musik selbst die Droge. Er identifiziert jeden Track nach Sekunden und freut sich über DJs, die Zeug so fernab des Üblichen spielen, dass man in ihrem Klub, wären die Charts die Erde, mindestens rund um die riesigen Eis-Geysire des Saturnmondes Enceladus tanzt.
Merke ➙ In jeder feiernden Gruppe gibt es einen, der sich in nerdiger Nanogenauigkeit für die gespielte Musik interessiert. Ihn sollte man hegen und pflegen, denn nur die Freaks halten die Produktion am Laufen.
»Das ist ›Dawn Chorus Pedal‹ von Bass Clef!«, ruft Spezi in den raumfüllenden Klang eines Tracks, der seine Soundflächen wie riesige Zeltplanen über baumstammgroße Drums spannt. »Die Leute von Hard Wax haben extra für Formationen wie diese die Kategorie Outsider House erfunden! Schreibt jedenfalls die Groove . Da fallen auch Ricardo Villalobos, STL oder Pépé Bradock drunter! Wobei man den Villalobos natürlich eigentlich nicht ernsthaft als Außenseiter bezeichnen kann! Was nicht heißen soll, dass er nicht groß ist, bloß weil er bekannt ist! Wie er die Schnittstellen von Rhythmik und Klang erforscht, das sucht schon seinesgleichen! Und er hat einen Riesenhorizont! Welcher DJ geht sonst hin und remixt die besten Stücke eines Jazzlabels!? Hat er nämlich gemacht! Den ganzen ECM-Katalog! Mit Max Loderbauer zusammen! Auf dem ganzen Album gibt’s so gut wie keine gerade Kick-Drum!!!«
Spezis Vorträge sind kaum zu unterbrechen. Er hält sie neben der Tanzfläche, auf der Tanzfläche, an der Bar. Dass er die Musik so liebt, bedeutet nicht, dass er sich von den Drogen fernhält. Sein Konsum ist sogar gefährlicher als der aller anderen, denn während er die Sorten und Geschmacksrichtungen der elektronischen Musik nahezu wissenschaftlich unterscheidet, ist es ihm völlig egal, was sich in den Tütchen befindet, in die er seinen Finger hineinsteckt. Spezi ist ein Dipper. Er mag nichts durch die Nase ziehen, und beim Pillenschlucken muss er würgen. Hat er Kopfschmerzen oder eine Grippe, kriegt er kaum ein Aspirin runter. Pulver ist des Spezis liebstes Medium. Hält jemand im Augenwinkel eine Tüte hin, unterbricht er nicht mal seine Vorträge. Den Blick immer noch aufgeregt in der Runde der Zuhörer, befeuchtet er seinen Zeigefinger, streckt den Arm zur Seite, lässt den Finger in das Pulver sinken, zieht den Arm wieder ein und schleckt es kurz ab. Spezi braucht und liebt dieses Ritual. Welches Pulver er dabei von seinem Finger schleckt, tangiert ihn eher peripher. Das ist problematisch, denn wäre jedes Mal das harte Zeug darin, läge Spezi bereits Freitagnacht mit einer Überdosis zuckend vor der Theke.
Seine Freunde füllen daher immer ein paar Dutzend der transparenten Tütchen mit Ahoi-Brause, was Spezi jedes Mal, wenn der Geschmack sich in seinem Mund ausbreitet, mit einem erfreuten Strahlen quittiert. »O Waldmeister!«, sagt er dann und lacht, als mache ihm das kleine Spielchen großen Spaß.
Was sagt die Wissenschaft? ➙ »Das Spezialistentum versetzt den Spezialisten in die Lage, den Rest der Welt nahezu vollständig auszublenden«, erklärt Prof. Niklas Neugebauer vom Institut für nichtinvasive Neurowissenschaft (IfnN) in Niedereschbach. »In ihm läuft ein Programm ab, ein Skript, das ihm sagt, er dürfe sich durchaus wieder um die Außenwelt scheren, sobald er seine Innenwelt, also sein Fachgebiet, vollständig im Griff habe.« Es sei offensichtlich, so Prof. Neugebauer weiter, »dass dies höchstens in Gebieten möglich wäre, deren Entwicklung endgültig abgeschlossen ist. Sprich: in denen keine neuen Erkenntnisse mehr denkbar sind oder keine neuen Werke mehr erscheinen. Da diese in der ausdifferenzierten Moderne im Grunde nicht mehr existieren, hat er de facto eine Ewigkeit lang Grund, in seinem Kokon zu verharren.«
Babbel findet im House-Klub nicht so recht Anschluss. Die Gäste hier sind wenig gesprächig und zudem oft deutlich älter als er. Womöglich hat er auch noch nicht genug eingeworfen. Für ihn ist das lange Wochenende ein Prozess der Öffnung. Ein Videospiel, in dem sich alle Figuren, mit denen er gesprochen hat, gelb färben und die zuvor dunkle Landkarte der anonymen Tänzer wie Tausende kleiner Lämpchen erhellen. Außerdem will er zwischen all den gelb aufblinkenden Angesprochenen auch endlich mal eine erfolgreich eroberte Frau finden. In welcher Farbe sie aufleuchten würde, ist ihm noch nicht klar. Rosenrot vielleicht, auch wenn
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