Ufer des Verlangens (German Edition)
sodass sie wie die Glieder einer Puppe neben seinem Körper baumelten.
Zelda sah von einem zum anderen, doch niemand sagte ein Wort.
In den Augen der Frauen standen Tränen, Connor hieb mit der Faust auf den Tisch, und ihr Vater ging schleppenden Schrittes zur Wandbank und ließ sich schwer auf das Fellpolster fallen.
»Sie ist weg«, war alles, was er mit brüchiger Stimme hervorbrachte.
»Nein! «
Zeldas Schrei durchschnitt die Stille wie ein Henkersschwert.
Dann rannte sie mit fliegenden Röcken die Treppe hinauf, stürmte in Joans Kammer und blieb wie angewurzelt an der Tür stehen.
Sie umfasste den Raum mit einem einzigen, langen Blick. Einem Blick, der Gewissheit schaffte.
Joans Bett war nicht gemacht. Der Abdruck ihres Kopfes war noch immer auf dem Kissen zu sehen. Ihr Nachtgewand lag nachlässig verknäult in ungewohnter Unordnung auf dem Boden. Der Deckel ihrer Truhe stand offen, die Fensterläden ebenfalls. Der Wind schlug sie hin und her, sodass in regelmäßigen Abständen ein Scheppern ertönte. Ein Scheppern, wie Joan es in der Nacht schon gehört hatte.
Langsam betrat sie das Zimmer, warf einen Blick in die Truhe und sah auf Anhieb, dass das kleine Lederbeutelchen fehlte, Joans größter Schatz. Das kleine schwarze Lederbeutelchen, in dem eine Haarlocke von ihr, Zelda, steckte und ein schmaler goldener Ring, der einst ihrer verstorbenen Mutter gehört hatte.
Zelda beugte sich über die Truhe, wühlte das Unterste nach oben, riss Kleider und Leinentücher heraus, warf Wäsche und einen Umhang hinterher, bis die Truhe leer war. Doch das Lederbeutelchen fand sie nicht.
In dem plötzlichen Wahn zu glauben, dass, fände sie das Lederbeutelchen, alles wieder gut würde und Joan zur Tür hereinkäme, eilte sie zum Waschtisch. Sie sah Joans Kämme aus Elfenbein, die Haarbürste, zwei Bänder und ein Behältnis mit Rosenwasser, doch auch hier fand sie das Lederbeutelchen nicht.
Mit einer wilden Handbewegung, in der alle ihre Ängste, alle Befürchtungen und die schreckliche Gewissheit sich vereinten, wischte sie die Gegenstände von Tisch, sodass sie laut krachend zu Boden fielen.
Dann ließ sie sich auf das Bett fallen und begann zu weinen. Zelda schlug die Hände vors Gesicht, schluchzte aus tiefster Seele, fühlte sich verloren und von Gott verlassen, mutterseelenallein – und schuldig.
Sie hatte in der Nacht seltsame Geräusche gehört, hatte das Klappern von Joans Läden bis in ihr Zimmer hinein gehört. Warum war sie nicht aufgestanden und hatte nach der Schwester gesehen?
Warum war Joan geflohen? War sie geflohen? Um einem Leben im Kloster zu entgehen? Wo war sie jetzt?
»Joan, wo bist du?«, flüsterte Zelda verzweifelt, dann presste sie ihr Gesicht auf den Abdruck im Kopfkissen. Sie roch Joans Duft, und die Verlassenheit schlug wie eine Welle über ihr zusammen.
»Joan, Avo bist du?«, weinte Zelda. »Wo bist du? Wo bist du nur?«
Nach einer Weile, als sie das große Erschrecken in Joans Kissen geweint hatte, fand sie ihre Fassung wiederund richtete sich auf. Entschlossen wischte sie sich die Tränen von den Wangen, atmete einmal tief ein und aus und betrachtete das Zimmer erneut.
»Vielleicht hast du ja einen Hinweis hinterlassen, Joan«, sprach Zelda leise mit ihrer nicht anwesenden Schwester. »Du hast nicht gerufen, nicht geschrien, also hast du auch über deine Flucht selbst entschieden. War es so, ist es so, Joan?«
Zelda richtete den Blick auf den mit duftenden Binsen bestreuten Dielenboden, als könnte sie dadurch das Geheimnis um Joan lüften.
Schritt für Schritt suchte sie den Raum nach irgendeinem Zeichen ab. Sie war beinahe fertig, da brach die Sonne, die inzwischen schon ihre halbe Höhe erreicht hatte, durch das Fenster und brachte am Fuß des Bettes etwas zum Funkeln.
Zelda bückte sich und griff danach. Es war eine Mantelschließe. Eine Mantelschließe, die sie schon einmal in den Händen gehalten und bewundert hatte. Eine Mantelschließe mit den Initialen I und L.
Ihr war, als griffe eine eiskalte Hand nach ihrem Herzen und drückte es schmerzhaft zusammen. Sie bekam kaum Luft. Hoch aufgerichtet stand sie in Joans Zimmer und betrachtete die Schließe in der Hand mit ungläubigen Blicken, die andere Hand auf ihr Herz gepresst.
Die Gedanken stoben wie Schwärme wilder Bienen durch ihren Kopf.
Joan und Ian, Ian und Joan.
Plötzlich fielen ihr die Worte ein, die Ian am See zu ihr gesagt hatte.
»Warst du schon einmal verliebt?«, hatte Zelda gefragt, und Ian
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