Ultimo
Moment lang stehen, fasst sich an den Bund der grauen Trainingshose, zieht sie energisch hoch und atmet tief durch. Was für ein Labsal für die Lungen. Die Luft riechtso rein und klar, als stünde erauf demGipfel eines Bergs.
Dafür ist der Boden ganz schön glitschig.
Aufpassen! Sich beim morgendlichen Einkauf eine Verletzung zuzuziehen, fehlte gerade noch. Er hat sowieso schon genug Ärger am Hals.
Vorsichtig trabt er die Schillerstraße entlang und immer weiter bis zum Schillerplatz. Die kleine Trafik hat schon geöffnet, und er kauft eine Stange Zigaretten und eine Tageszeitung. Danachdebattiert er mit der Verkäuferin über das Bettlerproblem im Stadtzentrum, die beschissene Politik in diesem Land, die ständig steigenden Preisefür Tabakwaren und die unerhörte Hexenjagd auf alle Raucher dieser Welt.Nach diesem seelischen Ausschleimen der besonderen Art marschiert er auf der anderen Straßenseite wieder retour.
Es ist kurz nach acht, und kein Mensch ist zu sehen. Außer der Straßenbahn, die vor fünf Minuten an ihm vorbeifuhr, ist ihm noch nicht einmal ein Fahrzeug begegnet. Deshalb fällt ihm der graue Renaultauch sofort auf, der keine 20Meter vor ihm aus der Nibelungengasse heraus an die Kreuzung mit der Schillerstraße heranrollt. Der Wagen stoppt, und der Bursche hinterm Steuer beobachtet ihn.
Angestarrt zu werden, hat der suspendierte Polizist schon als Kind gehasst. Jetzt mag er das noch weniger.„Was schaust du denn so blöd?“, murmeltNeumeier misstrauisch und bleibt stehen. Sofort fährt der Kontrollinspektor alle Antennen aus. Da stimmt etwas nicht. Der Bursche schaut so unschuldig, aber ihn kann er nicht täuschen. Der Kerl da drüben ist nicht astrein. Also geht er in Deckung. Aus einem offenen Fenster über Neumeierdringt Radiomusik. Irgendetwas Modernes mit stampfendem Bass, jaulenden Gitarren und deutschem Sprechgesang. Das soll Musik sein? Entsetzlich.
Der Mann im Renault legt den Gang ein und lässt hart die Kupplung kommen. Die Karre macht einen Satz nach vorne, wird aber vom Lenker mit kreischenden Bremsen wieder abgefangen. Dann biegt er nach links in die Schillerstraße ein, während sich Benno Brechts Stellvertreterimmer noch argwöhnisch hinter einen am Fahrbahnrand abgestellten Volvo duckt. Er lässt den Wagen nicht aus den Augen, bis er in den Schillerplatz einbiegt und aus seinem Blickfeld verschwindet.
Erleichtert richtet sich Neumeier wieder auf, wischt sich den Angstschweiß von der Stirn und marschiertentschlossen weiter. Im Eiltempo. Dann steht eran der Kreuzung mit der Nibelungengasse.
Verdrossen holt er ein Taschentuch aus seiner Trainingsjacke, schnäuzt sich und überquert die Fahrbahn. Keine zehn Meter weiter wirft er aus einer Eingebung heraus einen Blick über die Schulter, und erstarrt. Der Renault! Da kommt er schon wieder. Er gondelt die Straße herunter. In Schrittgeschwindigkeit. Zufall? Lächerlich.
„Scheiße“, schnauftNeumeier und saust auch schon los. Wie der Blitz rennt er quer über die Fahrbahn direkt auf die Herz-Jesu-Kirche zu. Wild wirft er seine Beine nach vorn. Schneller. Nichts wie weg hier!
Vor der Kirche steht ein Motorradfahrer am Fahrbahnrand. Die dunkle Suzuki hat er vor sichaufgebockt.Der Kerl scheintirgendein technisches Problem zu haben, denn er kniet auf demGehsteig und hantiert an der dem Flüchtendenentgegengesetzten Seite der Maschine herum. Eigenartigerweise trägt er dabei immer noch seinen schwarzen Vollvisierhelm, aber das fällt Neumeier erst auf, als er mit dem Mann in schwarzer Lederkluft auf gleicher Höhe ist.
Schnaufend stößt Neumeier den Motorradfahrer zu Boden, registriert den Revolver in dessen Hand und springt geistesgegenwärtig über die kniehohe Mauer in den Park, der das Gotteshaus umgibt. Da hat sich der Typ im schwarzen Lederoverall auch schon wieder hochgerappelt und ballert los. Der erste Schuss geht fehl. Auch der zweite pfeift dicht an Neumeiers Kopf vorbei. Hastig schlägter einen Haken, registriert einen weiteren Schuss und läuft stur weiter auf die Kirche zu. Knapp vor dem Hauptportal trifft ihn ein Projektil in den linken Oberschenkel und wirft ihn in ein Rosenbeet, wo er seitlich verdreht zu liegen kommt. So trifft ihn der Attentäter mitdem nächsten Schuss auch bloß in den rechten Arm.Kreischend vor Angst rollt sich Neumeier zur Seite.Zum Glück! So verfehlt ihn das nächste Projektil und fährt keine zehn Zentimeter neben ihmin die Erde.
Immer noch steht der Motorradfahrer breitbeinig auf
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