Und dann kam Paulette (German Edition)
erzählen sollte, weil sie ja doch auch ein bisschen deine Tochter ist und du traurig sein könntest, wenn du erfährst, was für gemeine Wörter sie benutzt. Aber glaub nicht, dass du sie schlecht erzogen hast, das stimmt nicht, ich schwör’s, du hast deine Sache gut gemacht. Keine Angst. Außerdem kann es dir auch egal sein, weil, Schimpfwörter tun nicht wirklich was. Ich benutze ganz oft welche und weiß, dass sie nichts tun. Deine haben mir gut gefallen. Wenn du dich geärgert hast und verflixt und zugenäht gesagt hast, das war lustig. Klein Lu sagt ganz oft zum Donnerwetter und auch Mist, wie Ferdinand. Er ist noch klein, da geht das, er macht sich nicht lächerlich. Wir in meiner Klasse sagen richtig schlimme Sachen wie Scheiße oder du gehst mir auf den Sack. Aber wir sind auch größer, darum.
Früher, als du noch da warst, hatte Mama weniger Angst vor allem. Jetzt will sie dauernd, dass wir bei ihr bleiben, und wenn wir hinfallen oder Schnupfen haben, glaubt sie immer gleich, dass wir sterben müssen. Das ist nicht witzig. Ich hoffe, das geht bald vorbei.
Onkel Guy ist ganz traurig, aber er macht, dass man es nicht sieht, wenn wir bei ihm sind. Manchmal versucht er, Witze zu reißen, aber die sind nicht lustig, darum lachen wir nicht immer. Auch Isabelle tut so, als wäre alles okay. Aber einmal habe ich gehört, wie sie nachts geheult hat. Das ist normal, dass man heult, wenn man keine Ehefrau oder keine Mama mehr hat. Ich würde jedenfalls heulen, wenn ich meine nicht mehr hätte. Aber wenn es Papa wäre, würde es gar nichts machen.
Das war’s, Tante Gaby, mehr wollte ich nicht schreiben.
Wenn du mir antworten willst, kannst du ja in meine Träume kommen. Ich will versuchen, mich morgens beim Aufwachen daran zu erinnern.
Ich drücke dich ganz fest.
Unterzeichnet: Ludovic
Dein Großneffe, der dich ganz arg lieb hat.
Klein Lu will, dass ich in diesen Brief schreibe, dass er dich ganz lieb grüßt. Ich habe das Bild gesehen, das er für dich gemalt hat: ein Schmetterling. Und dann wirst du sehen, seine Unterschrift ist total kacke.
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22
Simone und Hortense warten
Elf Uhr.
Simone und Hortense warten seit einer Stunde, sie sitzen auf ihren Stühlen gegenüber der Tür und stricken.
Heute Morgen waren sie früher aufgestanden als sonst. Simone hatte den Ofen mit Holz bestückt und den Kaffeekessel daraufgestellt, um den Rest Kaffee von gestern aufzuwärmen. Dann war sie in ihren Pantoffeln langsam zu Hortense zurückgekehrt, und gemeinsam hatten sie ihre schwarzen Kleider, die melierten Strickwesten, die Wollstrümpfe mit den ausgebeulten Knien, die gefütterten Halbstiefel und die Wintermäntel mit einem Kragen aus Persianerimitat aus dem Schrank geholt. Es war lange her, seit die Sachen zuletzt an der frischen Luft gewesen waren. Sie rochen etwas muffig und dezent nach Mottenkugeln. Hortense überlegte, wie lange es her war, dass sie … Sie hatte die Frage noch nicht zu Ende formuliert, da kam von Simone bereits die Antwort.
«Ein Jahr genau. Zu Alfreds Beerdigung.»
«Alfred? Wer war das noch mal?»
«Der Kunstschmied, Hortense, Mensch, denk doch mal nach!»
Im selben Moment begann der Kaffee in der Küche wie wild zu kochen, und Simone rannte los, um ihn vom Ofen zu nehmen, gefolgt von Hortense, die mit schriller Stimme schrie: «Wenn Kaffee zu heiß wird, wird er bitter!» Natürlich ärgerte sie sich darüber. Aber bitter hin oder her, getrunken wurde er trotzdem. Er schmeckte nicht besonders gut, und sie hatten auch keinen Zucker da. Den hatten sie letztes Mal auf der Einkaufsliste vergessen. So ist es nun mal, Hortense hatte ihre Aussetzer.
Draußen auf dem Fenstersims saß eine Katze mit halb abgerissenem Ohr und Hinkefuß und miaute herzzerreißend. Simone machte ihr auf und sagte so laut, dass es die Nachbarn hören konnten: «Du hast bestimmt Hunger, Miezchen, stimmt’s? Komm rein, bei uns kriegst du etwas Milch. Das kann man ja nicht mit ansehen.»
Sie schloss das Fenster und brummte weiter vor sich hin.
«Die wären imstande, das Tier verhungern zu lassen. Ich sage ja, die haben einen Stein, da, wo andere Leute ein Herz haben.»
Nachdem sie der Katze eine Schüssel mit Milch hingestellt hatte, saßen sie beide da und sahen ihr beim Schlabbern zu. Die Katze nahm sich Zeit, strich sich die Schnurrhaare glatt und leckte sich das Kinn trocken. Als sie wie jeden Morgen auf Simones Schoß hüpfen wollte, um sich streicheln zu lassen, sprang diese auf und
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