und das geheimnisvolle Erbe
es Neuigkeiten gab, kamen sie immer erst zum Flamborough. Deshalb nannten sie es auch den Flamborough Telegraph , als wäre es eine Zeitung.«
»Bitte, kommen Sie mit«, sagte Miss Kingsley.
»Ich kann Ihnen etwas zeigen, das Sie interessieren wird.«
Sie führte uns in die Lounge, einen großen, rechteckigen Raum mit weinrot gepolsterten Bänken an den Wänden und einer kleinen Tanzfläche. Was jedoch die Aufmerksamkeit aller Besucher sofort auf sich zog, war die wunderschöne traditionelle englische Bar mit Säulen, die bis an die Decke reichten. Das Holzwerk war von oben bis unten mit Schnitzereien und Messingbeschlägen verziert, und die gesamte Rückseite wurde von einem ovalen Spiegel eingenommen, der mit einem Rand aus ein-geschliffenen Blumen und Früchten eingefasst war.
Der Raum war düster und still, die Bar war noch nicht geöffnet.
»Zum Glück blieb das Flamborough Hotel in den Bombenangriffen verschont«, sagte Miss Kingsley.
»Unsere Gäste würden größere Veränderungen hier nicht schätzen. Deshalb ist der Raum weitgehend so erhalten geblieben, wie er im Krieg ausgesehen hat.
Hier, das wollte ich Ihnen zeigen.« Damit ging sie ans andere Ende des Raums, wo Fotografien an den Wänden hingen. Es waren überwiegend Amateur-aufnahmen, gerahmte Schwarzweißbilder von Männern in Uniform oder in Fliegerausrüstung, die neben ihrer Maschine standen oder fröhlich lachend an Klapptischen saßen.
»Sie waren so jung«, sagte ich, indem ich ein Gesicht nach dem anderen betrachtete.
»Und älter wurden sie auch nicht«, sagte Paul.
Miss Kingsley runzelte etwas unwillig die Stirn, dann wandte sie sich zu mir. »Das sind die Jungens, die nicht wiedergekommen sind«, erklärte sie. »Ihre Kameraden haben die Bilder aufgehängt. Wir lassen die Fotos von ihnen hier hängen, damit sie nicht in Vergessenheit geraten.«
Während meines Aufenthalts in London sollte ich diese Gesichter nicht mehr vergessen. Meine Mutter hatte mir den Krieg immer als ein großes Abenteuer geschildert, eine Zeit der unvergesslichen Anblicke und Geräusche, eine Zeit, in der man schnell enge Freundschaften schloss. Sie hatte aber nie die Freundschaften erwähnt, die ebenso schnell zu En-de gegangen waren.
Bill schien die Schlüssel zu sämtlichen Türen der Stadt zu besitzen. Er verschaffte mir Zutritt zu dem Gebäude, in dem meine Mutter gearbeitet hatte –
noch immer war es nichts weiter als ein Gewirr von Korridoren. Er brachte es auch fertig, dass ich mich auf dem Dach der St. Paul’s Cathedral wiederfand, von wo aus sie zugesehen hatte, wie die Brandbom-ben fielen. Dann machte er einen alten General ausfindig, der uns durch die Räume des damaligen Kriegsministeriums führte, jenes Bunkers, in dem während der Bombenangriffe Churchills Kabinett untergebracht war. Irgendwie bekamen wir schließ-
lich auch noch die Erlaubnis, uns das Fotoarchiv des Kriegsmuseums anzusehen, das normalerweise nur Wissenschaftlern zugänglich ist.
Bill war wieder einmal die Fürsorglichkeit in Person, und das machte mich nervös. Ich konnte nicht genau sagen, was es war, nichts, was mich direkt geärgert hätte oder mir peinlich gewesen wäre, aber da war wieder so etwas in seiner Art … Vielleicht war es dieses geheime, überlegene Lächeln, das er auch zu unterdrücken versucht hatte, als er mich in Boston herumchauffierte. Hier in London gab es mir das Gefühl, als ob etwas in der Luft läge, als ob er einen riesengroßen Streich plante, der mich aus der Fassung bringen würde.
Soweit ich es beurteilen konnte, unterlief ihm nur einmal ein Fehler, und selbst das nicht aus eigener Schuld. Es war lediglich ein unglücklicher Zufall, der uns mit einem Bekannten zusammenführte, der ein häufiger Gast im Leseraum der Abteilung für alte Bücher in meiner Uni in Boston gewesen war; ein echter, unverwechselbarer, hundertprozentiger Schleimer namens Evan Fleischer. Evan war Ende zwanzig; er hatte strähniges, schulterlanges schwarzes Haar, eine dicke Brille und einen behaarten Ku-gelbauch, der zwischen den zum Platzen gespannten Knöpfen seiner zu engen Hemden herauslugte. Man hätte ihn für einen liebenswerten Schlamper halten können, wenn er nicht gleichzeitig das egozent-rischste Geschöpf weit und breit gewesen wäre.
Es war mir nie gelungen, Evans Spezialgebiet herauszufinden, weil er behauptete, alles zu wissen.
Das Wort »wichtig« war ein häufiger Bestandteil seiner Rede, nur dass er es etwas enger definierte als der Rest der
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