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Und dennoch ist es Liebe

Und dennoch ist es Liebe

Titel: Und dennoch ist es Liebe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jodi Picoult
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wo man im Hinterhof Zitronen züchten konnte und wo es niemals schneite. Ihre Mutter weigerte sich jedoch zu gehen. Und so begann May, mindestens dreimal im Jahr wegzulaufen.
    Dann holte sie all ihr Geld von der Bank, packte ihre wichtigsten Sachen und zog das an, was sie ihre ›Reisekleidung‹ nannte: ein knappes Top und weiße Shorts. Sie kaufte Bus- und Bahntickets und fuhr nach Madison, Springfield und sogar bis nach Chicago. Am Ende des Tages machte sie dann kehrt und fuhr wieder heim. Sie zahlte ihr Geld wieder auf der Bank ein, packte ihren Koffer aus und wartete darauf, dass ihre Mutter von der Arbeit nach Hause kam. Dann erzählte sie ihrer Mutter, wo sie gewesen war, als hätte sie nur einen Spaziergang gemacht. Und ihre Mutter erwiderte: Chicago? Nun, so weit bist du beim letzten Mal nicht gekommen.
    Auf einer dieser Exkursionen nach Chicago traf sie schließlich meinen Vater. Vielleicht hatte sie ihre Reise bis dahin ja nicht beenden wollen, weil ihr der Grund dazu gefehlt hatte. Und genau diesen Grund lieferte ihr nun mein Vater. Mom hatte unseren Nachbarn immer erzählt, dass sie, in dem Augenblick, als sie meinen Vater sah, gewusst hatte, dass ihr Schicksal vor ihr stand. Aber sie hat nie genauer ausgeführt, ob das nun ein gutes oder ein schlechtes Schicksal gewesen war.
    Mom heiratete Dad drei Monate nachdem sie sich kennengelernt hatten, und sie zogen in das kleine Reihenhaus, in dem ich aufwachsen sollte. Das war 1966. Mom begann zu rauchen und wurde süchtig nach dem Farbfernseher, den sie zur Hochzeit geschenkt bekommen hatten. Sie schaute sich jede Serie an und erzählte meinem Vater immer wieder, sie sei zur Drehbuchautorin berufen. Nach dem Einkauf schrieb sie Storyboards auf die Rückseiten der braunen Einkaufstüten. Eines Tages würde sie ganz groß rauskommen, sagte sie immer wieder.
    Und da sie glaubte, irgendwo anfangen zu müssen, nahm sie einen Job bei der Tribun e an und schrieb fortan Nachrufe. Als sie herausfand, dass sie schwanger war, bestand sie darauf, den Job zu behalten. Sie sagte, sie würde direkt nach dem Mutterschaftsurlaub weitermachen, denn schließlich bräuchten sie ja das Geld.
    Mom nahm mich dreimal die Woche mit in die Redaktion, und an den anderen beiden Tagen passte unsere Nachbarin auf mich auf, eine alte Frau, die nach Kampfer roch. Mein Vater sagte, May sei eine gute Mutter gewesen, doch sie habe mich nie wie ein Baby behandelt. Einmal, als ich neun Monate alt war, kam mein Vater nach Hause und sah mich auf der Türschwelle sitzen. Ich trug Windeln und eine Perlenkette und hatte Lidschatten und Rouge aufgelegt. Meine Mutter kam lachend aus dem Wohnzimmer gerannt. »Sieht sie nicht einfach perfekt aus, Patrick?«, hatte sie meinen Vater gefragt, und als der den Kopf geschüttelt hatte, war alles Leben aus ihren Augen gewichen. Solche Dinge passierten oft, als ich noch ein Baby war. Mein Vater sagte, Mom habe gewollt, dass ich schneller groß wurde. Sie wollte eine beste Freundin und kein kleines Kind.
    May verließ uns am 24. Mai 1972, ohne sich zu verabschieden. Mein Vater sagte, an ihrem Verschwinden habe ihn besonders hart getroffen, dass er es nicht hatte kommen sehen. Er war seit sechs Jahren mit ihr verheiratet gewesen und hatte so viel von ihr gewusst: die Reihenfolge, in der sie sich abends abschminkte; die Salatsoßen, die sie hasste, wie sich ihre Augenfarbe veränderte, wenn sie festgehalten werden wollte. Dennoch hatte sie ihn vollkommen überrascht. Eine Zeit lang hat er sich Zeitungen aus Los Angeles am Flughafen gekauft, denn er war fest davon überzeugt, dass sie irgendwann als Drehbuchautorin auftauchen würde, und dann hätte er sie gehabt. Doch im Laufe der Jahre neigte er mehr und mehr zu folgender Vermutung: Jeder, der spurlos verschwinden konnte, war sicherlich auch in der Lage, vorher jahrelang zu lügen. Mein Vater glaubte, dass Mom während ihrer Ehe die ganze Zeit über an einem Plan gearbeitet hatte. Und er beschloss, sie nicht hereinzulassen, sollte sie je wieder zurückkommen, denn er war über die Maßen verletzt. Unglücklicherweise fragte er sich von Zeit zu Zeit dennoch, ob sie noch lebte und ob es ihr gut ging. Allerdings erwartete er nicht, je wieder von ihr zu hören. Den Glauben an die Liebe hatte er jedenfalls verloren. Außerdem war das Ganze inzwischen zwanzig Jahre her. Würde sie jetzt plötzlich vor seiner Tür stehen, sie wäre nur noch eine Fremde für ihn.
*
    Mein Vater kam in jener Nacht in mein Schlafzimmer, als

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