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Und die Ratte lacht - Roman

Und die Ratte lacht - Roman

Titel: Und die Ratte lacht - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Persona Verlag
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Kanäle rings um die Schule und in der ganzen Straße, und alles wegen einer einzigen Ratte, die eine halbe Stunde auf der Regenrinne herumkletterte.
    Daniel, der hinter mir sitzt, sagte, vielleicht hätte die Ratte ja Angst vor uns, aber Daniel muss immer widersprechen, um zu zeigen, dass er allen überlegen ist.
    Und sie musste die Ratte viel länger als einen Tag aushalten. Das war kein Loch, sondern eine Höhle …
    Bestimmt hat sie geschrien, die Ärmste, und sie mussten sie beruhigen. Ich meine, die Bauersleute. Hoffentlich hat die Ratte sie nicht gebissen und sie nicht mit einer schrecklichen Krankheit angesteckt, wie Pest oder Typhus, denn in Bibelkunde haben wir gelernt, im 1. Buch Samuel, dass die Philister, die den Heiligen Schrein erobert hatten, ihn mit ein paar goldenen Ratten darin den Kindern Israels zurückgaben. Als Bußgeschenk, erklärte unsere Lehrerin, um die Epidemie abzuwenden, die Gott als Strafe über sie verhängt hatte. Wir schrieben sogar eine Schulaufgabe über diesen Abschnitt, ich erinnere mich genau daran, denn ich hatte solches Mitleid mit dem Künstler, den man gezwungen hatte, Rattenstatuen herzustellen. Ich schrieb mit großen Buchstaben »ekelhaft« unter die Arbeit, ich hätte fast ein Ungenügend bekommen, die Lehrerin gab mir die Arbeit mit einer Bemerkung zurück. Nach der Stunde rief sie mich zu einem Gespräch und warf mir vor, die heiligen Vorfahren zu missachten. Sie verlangte eine Entschuldigung, aber ich wollte mich nicht entschuldigen … Und sie war mit so einem ekelhaften Tier zusammengesperrt … Es ist eines der acht Ungeziefer, die Menschen und Geschirr entweihen, so steht es im Talmud, und ich zitierte die genauen Worte der Lehrerin, die einfach glaubte, ich würde mich nicht an den Stoff erinnern. Und dieses Ungeziefer vermehrt sich auch noch rasch, es lebt in den Eingeweiden der Erde und kommt nur nachts heraus, um sein Unwesen zu treiben. Und mit so etwas hat meine Großmutter gelebt.
    Mir wurde übel.
    Siehst du, dass ich mich erinnere, Miri?
    Die Bäuerin versuchte, die Ratte loszuwerden, bestimmt um meine Großmutter zu schützen, wenn sie sie nicht schon oben, in ihrem Haus, verstecken konnten, weil es zu gefährlich gewesen wäre. Die Bäuerin nahm ein Stück Papier und schrieb darauf die Worte: »Ich beschwöre diese Ratte hier, damit sie mir nichts Böses tut, und wenn sie sich mir noch einmal nähert, dann schwöre ich bei der Heiligen Muttergottes – die Heilige Maria sei meine Zeugin –, dass ich sie in sieben Stücke zerteilen werde.«
    Und dann befestigte sie den Zettel über dem Loch, vor Sonnenaufgang. Allein deshalb würde ich mich gern bei ihr bedanken, wenn ich nur ihren Namen wüsste. An den Zettel erinnert sich meine Großmutter, aber nicht an den Namen.
    Ich wollte sie umarmen, aber genau in diesem Moment wandte sie das Gesicht mit einer scharfen Bewegung ab und war plötzlich weit weg, und ich versuchte es nicht noch einmal.
    Vielleicht war eine gewisse Stimmung schuld, oder es war nicht der geeignete Tag für Fragen, oder ich habe nicht die richtigen Fragen gestellt. Es kann auch sein, dass sie an einer besonderen Krankheit leidet, nicht an Amnesie, die die Menschen verwirrt macht, sodass sie ihre Lieben nicht mehr erkennen oder einfach auf der Straße herumirren, sondern an etwas anderem, das die Wissenschaftler noch nicht erforscht und noch nicht herausgefunden haben, wofür es deshalb auch noch keinen Namen gibt. Vielleicht »Überfluss an Erinnerungen«, weshalb alles unter Verschluss gehalten werden muss. Bei dem Gedanken, dass die Erinnerung einen eigenen Willen haben könnte, bekam ich auf einmal eine Gänsehaut.
    Ich betrachtete mein leeres Heft und verstand, dass ich nichts hatte, keine Geschichte und keine Zeugenaussage und nichts, aus dem man etwas lernen oder aus dem man eine Moral für kommende Generationen ziehen konnte, das ist es doch, was ihr Lehrer wollt, und ich wusste, dass ich morgen schon abgeben muss, und die ganze Klasse hat schon einen Stammbaum gemacht, eine Genealogie, sie haben alles, was sie brauchen, und ich habe gar nichts.
    Sie beharrte auf einem Märchen. Einer Legende. Ich verstehe nicht, wie sie plötzlich auf so etwas kam, denn sie gehört nicht zu den Großmüttern, die vor dem Einschlafen Geschichten erzählen oder Wiegenlieder singen. Ich erinnere mich an keine einzige Geschichte, kein halbes Lied, das sie je … Nur mein Großvater. Er war ein großartiger Erzähler, und er sagte immer, das

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