und du bist weg
Jedes Mal verspürte sie eine gewisse Scheu, wenn ihre Füße die Marmorstufen, die in das Dachgeschoss führten, in Angriff nahmen. Dieser zur Schau gestellte Luxus machte sie beklommen und unsicher. In den ersten Wochen, als sie hier angefangen hatte zu arbeiten, hatte sie sich nicht einmal getraut, die Toilette zu benutzen.
Elena suchte den nächsten Schlüssel heraus. Die Butze wäre ohne weiteres einen Titelbericht für Schöner Wohnen wert gewesen. Sofort rechts neben dem Eingang lag die hypermodern eingerichtete Küche, im Anschluss folgte das Esszimmer. Links führte die Diele zum Bad, zur Gästetoilette und zum Schlafzimmer. Geradeaus gelangte man in eine bis zum Dachgiebel reichende Wohnhalle mit einem runden Kamin in der Mitte des Zimmers. Allein dieser Raum war größer als die Wohnung, in der sie mit ihren Kindern hauste. An den Wohnraum schloss die großzügige Dachterrasse an, die einen schönen Blick auf das Weitmarer Holz bot.
Eine Treppe führte in das ausgebaute Dachgeschoss, in dem der Hausherr sein Arbeitszimmer eingerichtet hatte. Die Empore reichte nur über die Hälfte des Hauses und schloss mit Beginn des Wohnzimmers bündig ab.
Ihr Geld war nicht da. An und für sich hätten auf dem Schuhschränkchen neben der Garderobe der vereinbarte Zwanziger und der Zehner liegen müssen, aber da war nichts. Fluchend stellte Elena ihre Tasche ab und schnaubte verärgert aus. Natürlich war es nicht das erste Mal, dass ihr Chef die Entlohnung vergessen hatte; wenn sie ihm einen Zettel hinlegte, würden bei ihrem nächsten Besuch wie selbstverständlich sechzig Mark auf dem Schrank liegen. Aber heute hatte sie noch ein wenig einkaufen gehen wollen und fest mit den dreißig Mark gerechnet.
Sie begann ihre Arbeit in der Küche und warf einen prüfenden Blick in die Spüle. Natürlich gab es in diesem Haushalt eine Spülmaschine, aber offenbar kam deren Besitzer mit dem Gerät nicht klar. Meistens stapelte sich das benutzte Geschirr einer ganzen Woche in einer billigen Spülschüssel; doch heute befanden sich dort lediglich zwei Tassen, ein Glas, ein Teller und ein wenig Besteck.
Während sie heißes Wasser in die Spüle laufen ließ, öffnete sie das Küchenfenster. In der Bude muffte es, als wäre einige Tage nicht gelüftet worden. Elena Wartete einen Moment, bis sie genug Wasser hatte, drehte den Hahn zu und ging ins Schlafzimmer, um dort ebenfalls die Fenster zu öffnen. Dann schlug sie den Weg zum Wohnzimmer ein, um die Tür zur Terrasse aufzuschieben.
Eilig drückte sie die Klinke zum Wohnzimmer herunter und schlug die Richtung zur Terrasse ein. Da kollidierte ihre Nasenspitze mit einer schwarze Socke.
Erschrocken wich Elena ein paar Zentimeter zurück, hielt sich die Hand vor den Mund und sah hoch. Neben der einen Socke befand sich auf gleicher Höhe eine zweite. In jeder der Socken steckten Füße, die aus einer ausgebleichten Jeanshose hervorlugten. Der Oberkörper, an dessen Seiten schlaff die Arme baumelten, war nackt. Um den Hals des Toten lag ein stabiler Strick, die Zunge hing aus dem leicht geöffneten Mund. Durch die halb geschlossenen Augen schien ihr die Leiche zuzuzwinkern.
Die Russin raufte sich entsetzt die Haare, pumpte einen Hektoliter Luft in ihre Lungen und stieß einen gellenden Schrei aus.
Nachdem sich Elena davon überzeugt hatte, dass ihre Beine sie tragen würden, tappte sie zurück und stürzte zum Telefon.
36
»Der hing schon ein paar Tage hier«, vermutete Brettschneider mit fachmännischem Blick. »Allerfrühestens Mittwoch, spätestens ab Freitagabend. Nach der Obduktion kann ich das genauer sagen.«
Wielert nickte stumm und lehnte sich an das Geländer zur Empore.
»Bald steht diese komische Firma ohne Geschäftsführung da«, witzelte Hofmann, der hinter seinem Boss aufgetaucht war. »Erst Burgert, jetzt Gumprecht. Schade, dass wir nicht das Präsidium verkaufen können; vielleicht würden wir so Flenner los.«
»Lassen Sie den das lieber nicht hören«, sagte Brettschneider schnell, bevor Wielert Hofmann rüffeln konnte. »Sie wollten doch noch ein wenig Karriere machen?«
»Ich kenne schlimmere Polizeipräsidenten«, bemerkte Wielert. »Kommen Sie nicht aus München? Dort ist doch wohl der zurzeit größte Sauhaufen unseres Vereins versammelt.«
»Übertreiben Sie nicht so maßlos«, gab der Gerichtsmediziner zurück. »Schwarze Schafe gibt es überall.«
»Ich hätte schon Angst, auf Ihrem Oktoberfest eine Maß zu viel zu trinken«, vertiefte Wielert
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