UND ES WAR SOMMER - Wiggs, S: UND ES WAR SOMMER
Lesen war also doch für etwas gut.
Er hatte eine Schwester, die gerade in einem Reitcamp war. „Sie heißt Madison und ist fünfzehn. Ich darf wegen meines Asthmas nicht in ein Feriencamp.“
„Hier ist es genauso schön“, versuchte Rosa ihn zu trösten, wobei sie eigentlich keine Ahnung hatte, ob das wirklich stimmte.
„Das Unternehmen meiner Familie hat mehrere Büros in der Stadt, und mein Vater kommt nur an den Wochenenden oder in seinem Urlaub in die Strandvilla“, erklärte er.
Sie wusste nicht so recht, was ein Unternehmen war, aber es schien seinen Vater ziemlich in Beschlag zu nehmen. „In welcher Stadt?“
„In New York. Und in Providence auch. Wo wohnst du?“
„In Winslow.“
„Da hast du aber Glück. Ich wünschte, ich könnte auch das ganze Jahr über hier leben.“
„Hm, im Winter ist es ziemlich kalt hier. Die Sommer sind am tollsten. Schwimmst du gern? Magst du Wandern oder Segeln?“
„Diese Dinge mache ich nicht“, sagte er. „Ich darf nicht.“
„Schade.“ Was für ein merkwürdiger Junge, dachte sie. „Paps sagt, wenn ich zwölf bin, darf ich Parasailing ausprobieren.“
„Weißt du jetzt, was ich damit gemeint habe, dass du Glück hast?“
„Ich glaube schon, ja. Vielleicht könnten wir zum Hafen in Galilee gehen und gucken, ob uns ein Fischer mit dem Boot mit aufs Meer hinausnimmt. Wusstest du, dass Mrs. Carmichaels Mann Hummerfischer ist?“
„Nein.“
Rosa hatte den Eindruck, dass er sich nicht allzu oft mit der Haushälterin unterhielt. „Meine Brüder heißen Roberto und Salvatore. Wir sagen Sal zu ihm, aber nie Sally.“ Sie zeigte auf ein paar Holzscheite, mit denen offenbar jemand ein Lagerfeuer gemacht hatte. „Meine Brüder haben so große Lagerfeuer gemacht, dass man die Funken kilometerweit sprühen gesehen hat.“ Sie spürte, wie sehr sie Rob und Sal vermisste, als sie von ihnen erzählte. Die beiden waren viel älter als sie, und ihre Eltern hatten immer gesagt, dass Rosa als Nachzüglerin ein spätes Geschenk des Himmels gewesen war. Neun Jahre nach den beiden Jungen hatten sie eigentlich nicht mehr mit Nachwuchs gerechnet – und schon gar nicht mit einem Mädchen. Rosas Eltern waren älter als die ihrer Freundinnen und Freunde, aber das war ihr immer egal gewesen. Sie wurde geliebt, sie war ein spätes Geschenk des Himmels, und sie hatte sich für das glücklichste Mädchen auf der ganzen Welt gehalten.
„Wir könnten vielleicht mal ein Lagerfeuer machen“, schlug Alex vor.
Es war nett von ihm, dass er diesen Vorschlag machte, denn anscheinend hatte er gespürt, dass sie nachdenklich und ein bisschen traurig geworden war. „Ja, das könnten wir vielleicht“, sagte sie, während sie den öffentlichen Strand entlang, an den Parkplätzen vorbei und Richtung Point Judith, der äußersten Spitze der Küste, gingen. „Hier musst du aufpassen“, warnte sie ihn. „Die Felsen sind rutschig. Und scharfkantig.“
Alex machte einen Schritt vorwärts und geriet kurz ins Wanken. Doch er fand das Gleichgewicht rasch wieder. Wie er auf seinen dünnen weißen Beinen auf dem kantigen schwarzen Felsen stand, gegen den gerade eine riesige Welle schlug, sah er plötzlich sehr klein und schmächtig aus.
Rosa streckte ihm eine Hand entgegen. „Halt dich fest, und gib acht, wo du hintrittst.“
Als er ihre Hand nahm, war sie überrascht, wie fest sein Griff war. Obwohl er nur vorsichtig einen Fuß vor den anderen setzte, kamen sie gut voran. Dann spritzte plötzlich die weiße Gischt einer großen Welle zwischen den beiden Steinen empor, auf denen sie gerade balancierten. Alex machte einen Satz, aber zu spät. Seine Shorts waren klatschnass.
„Alles in Ordnung?“, fragte Rosa.
„Ja.“ Mit der freien Hand rückte er seine Brille zurecht. „Hier geht es ganz schön steil nach unten.“
„Keine Bange.“ Sie sprang auf den nächsten Stein. „Ich fange dich auf, wenn du runterfällst.“
„Was ist, wenn du runterfällst?“
„Das wird nicht passieren“, erklärte sie. „Ich falle nie.“
Schritt für Schritt arbeiteten sie sich weiter bis zu den großen Gezeitentümpeln, die bei Ebbe mit Wasser gefüllt blieben. Sie sahen sich die großen Seesterne und Seegurken an und bewunderten die neonfarbenen Algen und die schwarzen Muscheln, die sich an die Felsen hefteten. Alex wusste aus seinen Büchern genau, wie alles hieß, aber er wusste nicht, wie man Seeanemonen zum Spritzen brachte. Rosa zeigte es ihm. Patsch, direkt auf seine Brille.
Alex
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