Und fuehre uns in die Versuchung
Klosterglocke, die die frühen Beter mahnte sich zu eilen, lief sie in den inzwischen erleuchteten Korridor, schloss sich ein paar leise dahinhuschenden Nonnen an und folgte ihnen zum Frauenchor.
Das Fenster hinter dem Altar war jetzt geschlossen, wie Mathilda sah, als sie sich ganz hinten postierte. Gemeinsam mit den anderen Nonnen kniete sie sich hin und faltete die Hände.
„Herr, öffne meine Lippen“, sang die Äbtissin, erstaunlicherweise auf deutsch. Dabei hatte Vater Sigismund Mathilda extra noch alle relevanten Psalmen auf Latein auswendig lernen lassen.
„Damit mein Mund Dein Lob verkünde“, antworteten die Nonnen. Danach begann das Gebet.
Die Äbtissin sang: „Kommt, lasset uns Jahwe zujubeln.“
Der Nonnenchor fiel ein: „Lasset uns zujauchzen dem Felsen, der unser Heil.“
Eine Zeile sang die Äbtissin vor, dann folgte der Nonnenchor mit der nächsten Zeile. Psalm fünfundneunzig war Mathilda auch auf Deutsch wohlvertraut und so konnte sie beim morgendlichen Lobgesang mithalten.
Auf Vigil folgte Laudes. Füße und Knie schmerzten sie, als Mathilda sich wieder ganz hinten in den Zug der Nonnen einreihte und sich so zu ihrer Zelle zurückgeleiten ließ.
In ihrer Kammer beendete sie ihre Morgentoilette, kämmte sich und wartete dann im Flur auf eine auftauchende Nonne.
Es dauerte eine Weile, bis sie die Türe der Nachbarzelle aufgehen sah. Es war tatsächlichKatharina, die in der Kammer neben ihr wohnte. Mathilda, die schon Angst gehabt hatte, sich wieder eine Rüge zuzuziehen, wenn sie eine ihr unbekannte Nonne ansprach, war erleichtert.
„Wo kann ich mein Nachtgeschirr ausleeren?“, fragte sie leise.
„Komm einfach mit“, raunte Katharina zurück. „Da will ich auch gerade hin. Aber nimm gleich die Kanne mit, dann holen wir auch noch frisches Wasser.“
Mathilda nickte und schloss sich der freundlichen und hübschen jungenNonne dankbar an.
„Draußen beim Abtritt leeren wir auch die Nachttöpfe aus. Der Brunnen ist im Klostergarten“, sagte Katharina, als sie den Zellenkorridor verlassen hatten. „Aber wir müssen aufpassen, jetzt sind sie alle dorthin unterwegs.“
Mathilda nickte nur.
Die Schweigsamkeit der Nonnen war für sie sehr ungewöhnlich. Sie war es gewöhnt, dass sich Menschenansammlungen bereits aus einiger Entfernung durch lautes Stimmengewirr ankündigten. Überrascht deshalb hielt sie inne, als sie hinter Katharina ins Freie trat – und auf eine ganze Zahl von Nonnen traf, die in völligem Schweigen ihren Morgenverrichtungen nachgingen. Schnell leerten sie ihr Nachtgeschirr und huschten leise zurück ins Gebäude, auf dem Weg in den Klostergarten.
Am Brunnen trafen sie einige Schwestern, die sich, lediglich durch Handzeichen verständigend, gegenseitig halfen und gemeinsam einen Eimer hochzogen. Schließlich schleppten Katharina und sie ihre gefüllten Krüge zurück zu ihren Räumen.
Sie hatten gerade einen kleinen Flur passiert und eine Türe hinter sich geschlossen, als Katharina stehenblieb und Mathilda bedeutete, hier zu warten. Sie ging bis zur nächsten Ecke, prüfte, ob die Luft rein war, kam zurück und fragte leise: „Wirst du heute mit Elisabeth … äh, Schwester Jordanin sprechen?“
Mathilda, von der Frage überrascht, musste kurz nachdenken. „Sie hat etwas gesagt von Laudes und Messe, und dass sie mir danach das Kloster zeigen würde. Und später dann, nach Sexta, wollte sie mich in die Bibliothek bringen.“
„Gut“, nickte Katharina und sah sehr zufrieden aus. „Das ist gut.“
Damit wandte sie sich um und lief ohne ein weiteres Wort vor Mathilda her zu den Zellen zurück.
Erfreut registrierte Mathilda das wieder weit offenstehende Fenster, als sie zu Prim den Frauenchor betrat. Noch immer war es draußen dunkel und so beleuchteten nur einige Kerzen die Kapelle.
Aus der Kirche drang eine dunkle Stimme. Sie sang: „Gott, merk auf meine Hilfe.“
Wiederum deutsch, es schien also immer so zu sein.
Darauf sangen die Nonnen: „Herr, eile, mir zu helfen!“
Nun sangen nur die Mönche: „Ehre sei dem Vater und dem Sohne und dem Heiligen Geiste.“
Und dann alle: „Wie es war im Anfang, so auch jetzt und allezeit und in Ewigkeit. Amen. Alleluja.“
Dann jubilierte der im Wechsel zwischen Männern und Frauen gesungene Hymnus durch die Kirche und brachte Mathilda mit seiner Schönheit zum Erschauern.
Darauf folgte die Lesung, feierlich im Wechsel gesprochen – und die heilige Messe.
Mathilda fragte sich, wie die
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