Und immer wieder Liebe Roman
Enkel keine Großmutter, die Obst verkauft hat. Ist es nicht manchmal besser, wenn die Dinge nicht explizit gesagt werden? Die Wahrheit ist so offensichtlich – da ist die Erfindung, die Fantasie, die Verdrehung der Tatsachen doch wesentlich besser, oder? Nach diesen Worten wird nichts Romantisches mehr an meiner Erinnerung sein, wie Federico die Aula des Polytechnikums betrat und den Anblick seiner knutschenden Freundin nicht ertragen konnte. Nein, die banale, unromantische Wahrheit tischt er mir dreißig Jahre später auf, hier am Strand, und sie hat mit seiner Mutter zu tun. In einem Roman würde das niemand für glaubwürdig halten.
»Ich weiß nur, dass es mir hundeelend ging. Von deinen Eltern habe ich nicht einmal mehr das Gesicht oder die Stimme in Erinnerung. Nichts. Ich wollte auch nichts mehr von ihnen wissen. Stattdessen bin ich nach Freiburg gegangen, in Quarantäne. Dort habe ich als Verkäuferin gearbeitet und studiert. Jungen fand ich zum Kotzen. Ich habe ein Jahr lang nur gelernt und geheult. Gabriella weiß das alles. Vermutlich ist das auch der Grund, warum
sie dir gegenüber so misstrauisch ist. Sie gibt sich alle Mühe, mich zu schützen.«
»Ich habe monatelang Mädchen mit nach Hause gebracht, die wenig präsentabel waren. In meinem Zimmer habe ich mit ihnen gevögelt, und ich habe sie ihr alle vorgestellt und gesagt, dass ich die Erstbeste schwängern würde. So wütend war ich damals. Ich habe eine Menge Leute verletzt, nur die Huren nicht. Die echten Huren habe ich bezahlt. Es gefiel mir, meine Mutter in eine Krise zu stürzen. Ich kam vom Polytechnikum in Genf zurück, um hier meinen Abschluss zu machen. Du warst einfach zu...«
»Zu wenig flüssig.«
»Zu extrem in allem, was du gesagt und getan hast. Für ihren Geschmack zumindest.«
»Du warst aber doch kein Thronerbe. Du warst nur der Sohn eines ›soliden Arbeiters‹, der es zu Reichtum gebracht hat. Wegen einem Haufen Geld hast du mich also verlassen. Und aus Statusgründen. Total verrückt. Das klingt, als würdest du von einem braven Jungen reden, der sich mit einer Verbrecherin eingelassen hat.«
»So darfst du das nicht sehen, Emma. Oder doch, du hast recht. Aber du begreifst nicht, was es bedeutet, der einzige Sohn einer Familie zu sein, für die praktisch nur das Geld und die Fassade zählen. Ich war davon überzeugt, dass ihr Glück von mir abhing. Meine Mutter war depressiv und lag stundenlang im Bett. Meinetwegen.«
»Und dann hast du eine geheiratet, die genauso ist, wie deine Mutter sich das vorgestellt hat. Damit waren alle Klassenunterschiede aufgehoben.«
»Ich brauchte eine bequeme Ehefrau. Das Absurde an der Sache ist, dass meine Mutter gestorben ist, bevor sie sich kennengelernt haben.«
Das ist das erste Mal, dass wir die Stimmen erheben, es ist uns ein Bedürfnis. Und jetzt fort mit diesem angestauten Zorn, den nie gesagten Dingen, den ungerechten Sätzen. Von seiner Frau habe ich nur ein Foto gesehen, ich habe nicht das Recht, über sie zu urteilen.
Bis heute hat es in unserer Liebesgeschichte keine sichtbaren, keine bewusst ausgesprochenen Verletzungen gegeben. Und wenn wir verletzt waren, haben wir das vor dem anderen verborgen. Es ist leichter, im Vagen zu bleiben. Sich treiben zu lassen. Auch wenn das Meer eiskalt ist und man die Sonne nur im Gesicht hat. Beschleunigter Herzschlag, Atemnot, zitternde Lippen, heiße Wangen – wer behauptet, dass Gefühle etwas Mentales sind? Der Körper ist es, der an unserer statt redet. Federico provoziert physische Reaktionen. Und ich bin die Sorte Mensch, die mit fünfzig immer noch nicht weiß, wie sie mit Scham umgehen soll. Wie viel besser wäre es doch gewesen, einfach nur glücklich zu sein.
»Ich war nie gut darin, Gefühle auszudrücken. Sogar Enrico hat mich einen Eisberg genannt.«
»Du solltest nachsichtiger mit den beiden jungen Leuten von damals sein. So ist es eben gelaufen. Wir haben es trotzdem geschafft. Du bist ein anerkannter Architekt, und ich bin eine nicht ganz erfolglose Buchhändlerin. Lass uns die Dinge nehmen, wie sie sind. Das hier sollte nicht unser Schicksal sein.«
»Wir selbst sind es, die über unser Schicksal entscheiden. Nur wenn ich mit dir zusammen bin, fühle ich mich angekommen.«
Ich höre ihm zu, den Kopf an seine Schulter gelehnt. Wir reden zum Meer hinaus, in der Hoffnung, dass es uns vom Schmerz befreit, wenn wir jetzt alles, was seit Jahrzehnten in irgendeinem mysteriösen Winkel unseres Organismus eingesperrt war,
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