Und plotzlich ist es Gluck
darauffolgender Nächte noch oft hervor, bis sie so zerknittert und abgewetzt ist wie ein altes Foto, das man im Portemonnaie mit sich herumträgt.
59
Ellen sollte in fünf Wochen zur Welt kommen. Sie ist mittlerweile sieben Wochen alt. Sie wiegt fast zwei Kilo, und sie ist ein Genie. Sie hat schon so viel gelernt. Sie kann ihre Körpertemperatur von allein halten und selbstständig atmen, ganz ohne Hilfe. Sie kann saugen. Meine Milch läuft ihr über das Kinn. Ich höre, wie sie schluckt. Sie hält sich gern am kleinen Finger meiner rechten Hand fest, während ich sie stille. Sie ist so rosarot wie Sofias Hochzeit. Sie liebt es, wenn ich auf ihre Zehen puste. Dann spreizt sie sie wie Finger auseinander, was so viel bedeutet wie: Nochmal! Sie liebt es, auf meiner nackten, warmen Brust zu liegen, eingehüllt in meine Bluse. Das nennt man die Känguru-Methode, sagen die Krankenschwestern. Eine schöne Vorstellung, finde ich. Ellen in meinem Beutel. Sie liebt die Geschichten von Pu dem Bären, und insbesondere I-Ah, den Esel, obwohl er so pessimistisch veranlagt ist.
Andrea kommt Ellen nach wie vor besuchen. Inzwischen ist Ellen auf eine andere Station verlegt worden. Mir ist aufgefallen, dass Andreas Besuche länger dauern, wenn John da ist. Die beiden haben eine gemeinsame Schwäche für antike Münzen und bringen neuerdings hin und wieder einige ihrer seltenen Stücke mit, um sie einander zu zeigen.
Neulich hatte John eine matt glänzende Bronzemünze dabei, die fast so groß war wie eine Untertasse. »Die hier habe ich auf der Ausgrabungsstätte gefunden, von der ich dir erzählt habe.«
Andrea nahm sie und betrachtete sie ehrfürchtig. »Und du durftest sie behalten?«, flüsterte sie.
John nickte. »Sie haben gesagt, sie sei wertlos.«
Die beiden schüttelten einmütig die Köpfe über die Ungerechtigkeit der Welt.
Als ich jetzt hereinkomme, starrt Andrea angestrengt auf ihr Klemmbrett. John studiert seine Unterlagen. Ich nehme ihm den Papierstapel aus der Hand.
»Was soll das?«
»Ich drehe bloß deine Zettel um«, sage ich. »Oder liest du neuerdings verkehrt herum?«
John öffnet den Mund, um etwas zu sagen. Sie sind beide feuerrot angelaufen. Er klappt den Mund zu, und ich lächle ihn an.
Ellen liegt noch auf der vierten Etage, aber in einer anderen Station mit weniger lebenserhaltenden Geräten. Intensivstation light sozusagen.
Ich entwickle eine Art Routine. Tagsüber bin ich bei Ellen im Krankenhaus, die Nächte verbringe ich bei verschiedenen Freunden und Bekannten, wie ein Nomade, nur dass ich statt einer Herde immer meine Reisetasche dabeihabe. Tara ist zu weit vom Krankenhaus entfernt.
Wenn ich bei Filly und Brendan schlafe, versucht mich Brendan mit allen möglichen »fleischlichen« Genüssen zu verführen und wäscht meine Kleider, selbst die sauberen.
Hin und wieder nächtige ich bei Bryan. Manchmal ist auch Cáit da. Sie sieht Sandra Bullock tatsächlich ähnlich.
Bei John übernachte ich nicht, aber wir sehen uns oft, meistens im Krankenhaus. Dann unterhalten wir uns über Ellens Brutkasten hinweg und lächeln uns an, als hätten wir uns eben erst kennengelernt und wüssten, dass wir uns gut vertragen werden.
Die Donnerstagabende verbringe ich bei Sofia, die neuerdings
in dem Haus wohnt, das ihr Valentino als Hochzeitsgeschenk gekauft hat. Die Preise auf dem Immobilienmarkt sind derart eingebrochen, dass er einen Verlust machen würde, wenn er es gleich wieder verkaufen würde. Zumindest hat er das zu Sofia gesagt. Hailey ist immer da, wenn ich komme. Sie ist noch nicht offiziell eingezogen, aber sie hat ein eigenes Regal im Bad, auf dem ihre Zahnbürste und ihr Flanellpyjama liegen. Ich kenne keine Frau außer ihr, die einen Flanellpyjama besitzt.
Red wohnt auch dort, vorläufig jedenfalls. Nachdem er zwei Tage vor der Hochzeit seine Wohnung gekündigt hat, war er auf Gedeih und Verderb einer gewissen Sofia Marzoni ausgeliefert, die zum Glück einen Narren an ihm gefressen hat und ihn in einem ihrer beiden Gästezimmer wohnen lässt, solange er auf Wohnungssuche ist. Sie geben ein ungewöhnliches Trio ab, aber sie kommen gut miteinander aus. Red ist für die Wäsche zuständig, weil er, wie sich herausgestellt hat, ein Talent dafür hat, Rotweinflecken aus weißen Jeans zu kriegen oder Haileys extravagante Blusen zu bügeln. Sofia kocht. Hauptsächlich Pasta. Sie kann binnen zwei Minuten und fünfunddreißig Sekunden eine Tomatensauce zaubern. Sie hat mich gebeten, sie zu
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