Und wenn wir fliehen (German Edition)
voller Panik ans Gesicht. Ich stolperte zur Seite und zerrte die Kühlbox mit, als meine Augen anfingen zu brennen. Pfefferspray. Sie musste es in ihrem Ärmel deponiert haben. Durch einen Schleier von Tränen sah ich Tobias mit dem Arm vor dem Gesicht husten, Anika die Tür aufreißen und ihre schmale Gestalt in den Flur hetzen. Ich schob die Box ein Stück Richtung Schlafzimmer und rannte ihr nach.
Die Dunkelheit des Flures wurde nur von dem schwachen Lichtschein erhellt, der durch unsere geöffnete Tür drang. Mit meinem verschwommenen Blick konnte ich absolut nichts erkennen. Anikas Stiefel polterten über den Boden. Sie war schon zu weit weg. Nach ein paar unsicheren Schritten hörte ich die Tür zum Treppenhaus zufallen. Ich sank zurück an die Wand und wischte mir mit dem Ärmel über die Augen, wieder und wieder. In der Wohnung war Justin am Stöhnen.
Leo erschien im Türrahmen. »Kae?«
»Sie ist weg«, antwortete ich.
»Geht’s dir gut?«
»Ja.« Meine Augen brannten immer noch, aber die Tränen ließen langsam nach. »Es hat mich nur ein bisschen erwischt. Und du?«
»Mich hat sie gar nicht getroffen«, erwiderte er. »Ich glaub’ Justin hat am meisten abgekriegt. Tobias ist auch ziemlich übel dran. Er sagt, Wasser hilft nicht viel, also sitzen sie beide bloß da und heulen.« Er zögerte. »Aber wir sollten lieber hier verschwinden. Sie rennt sicher direkt zu diesen Wächtern und führt sie her.«
»Du hast recht. Verdammt.« Ich schleppte mich wieder hinein.
Justin hockte neben dem Sofa, Tobias auf dem Sessel. »Ich bring sie um«, sagte Justin und wiegte sich sanft hin und her. »Und danach bring ich sie noch mal um.«
»Blinzel einfach weiter«, riet ihm Tobias. »Je mehr Tränen du zum Laufen kriegst, umso schneller spülen sie es raus.«
»Hol du die Schlafsäcke und die Decken«, sagte ich zu Leo. »Ich fang an, das Essen zusammenzupacken.«
»Wir verschwinden doch aus dieser verdammten Stadt, oder?«, fragte Justin. »Ich hab echt die Schnauze voll von hier.«
Ich sagte nichts. Ich hatte noch nicht einmal darüber nachgedacht, wohin wir jetzt gehen würden, nur darüber, dass wir aus diesem Haus raus mussten. »Wir können nicht hier weg«, antwortete ich. »Wir suchen uns eine andere Wohnung, nicht so nah an dieser.«
»Warum das denn?«, fragte Justin. »Das bringt doch eh nichts.«
Meine Kehle wurde auf einmal ganz eng. Im Schlafzimmer war es ruhig, vielleicht war Gav wieder eingeschlafen, aber die Tür stand immer noch offen. Er hatte nicht mehr viel Zeit. Solange wir hierblieben, hatten wir immer noch die Chance, eine Person und die technische Ausrüstung zu finden, die ihm helfen konnten, gesund zu werden. Wenn wir fortgingen … dann wäre das, als würden wir ihn endgültig aufgeben. Praktisch für tot erklären.
»Wenn es noch irgendwo Ärzte und Wissenschaftler gibt, ist hier die Chance immer noch am größten sie zu finden«, sagte ich und senkte dabei die Stimme. »Wir müssen unsere Suchstrategie ändern und noch vorsichtiger sein als vorher, aber es gibt keinen anderen Ort, wohin wir gehen könnten. Oder willst du etwa zurück zur Künstlerkolonie und da beim Gärtnern helfen?«
Justin machte ein langes Gesicht.
»Ich hätte nicht unachtsam werden dürfen«, murmelte Tobias. »Sie hätte nicht die Chance kriegen dürfen.«
Leo zögerte einen Moment, dann sagte er: »Es ist mitten in der Nacht, wir sind alle müde und durcheinander. Wir können doch später eine endgültige Entscheidung treffen, oder? Lasst uns jetzt einfach hier verschwinden, solange wir noch können.«
Wir mussten den Truck aufgeben. Als wir aus dem Garagentor kamen, blieb Justin plötzlich stehen, die Augen immer noch gerötet, und sagte: »Wir haben es ihr erzählt. Anika. Wir haben ihr davon erzählt, dass wir den Schneepflug benutzt haben, um hierherzukommen.«
»Sie werden danach suchen«, antwortete ich. »Egal wo wir ihn abstellen …«
Tobias schwenkte seine Taschenlampe in Richtung Straße. Der Schnee war während des Tages größtenteils geschmolzen und hatte die Wege frei gemacht.
»Wir würden keine Spuren hinterlassen«, sagte er. »Wir könnten jetzt fahren, und wenn wir später einen neuen Unterschlupf gefunden haben, stellt einer von uns den Truck möglichst weit weg ab.«
Wir entfernten uns mehr als zwei Kilometer vom Gebäude und tauschten die schicken Apartmenthäuser der Innenstadt gegen niedrige Betonbauten mit rostigen Balkonen. Tobias blieb mit Gewehr und Pistole
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