Underground
kann Ihre Mutter verstehen.«
Er nickte langsam, während er weiterhin etwas eintippte. »Ja, ich auch. Aber es fasziniert mich eben. Ich finde die forensische Pathologie unglaublich spannend. Ich mag zwar auf der Karriereleiter noch recht weit unten stehen, aber ich habe das Gefühl, als ob ich den Toten helfen könnte, ihren Frieden oder Gerechtigkeit oder so etwas zu finden. Ich weiß, das klingt ein bisschen schnulzig, aber heutzutage tendieren wir doch dazu, den Menschen einfach wegzuwerfen. Und dann jammern wir darüber, wie leer unser Leben geworden ist. Eine ziemlich kaputte Gesellschaft.«
»Sie meinen die amerikanische?«
»Ja.« Er lachte. »Wie Sie sehen, bin ich wirklich ein schlechter Indianer. Manchmal gehen mir meine eigenen Leute verdammt auf die Nerven. Ich finde, dass einige von ihnen viel zu lange und viel zu stur an bestimmten Traditionen festhalten. Sie werden zwar herumgeschubst und nicht ernst genommen, aber trotzdem unternehmen sie nichts dagegen, weil sie sich in Wahrheit nicht ändern wollen. Das mit den Reservaten, mit dem Sozialstaat – das
ist doch alles das reine Chaos. Aber wenn wir vorschlagen, uns um uns selbst zu kümmern, dann dürfen wir das nicht, weil es uns die Regierung verbietet oder weil unsere Stammesältesten behaupten, dass wir Traditionen zerstören würden. Wir sitzen immer zwischen allen Stühlen. Es ist schwer, mit der Natur in Einklang zu leben und die Traditionen nicht zu vergessen, wenn man gleichzeitig in der heutigen Welt überleben will. Aber genau das wollen wir doch alle – irgendwie überleben. Meine Familie war sehr stolz, als ich aufs College ging. Aber dann waren sie entsetzt, als sie erfuhren, was ich studieren wollte … Ha! Volltreffer!« Er lehnte sich zurück und grinste mich triumphierend an.
»Was?«, fragte ich und lächelte. Sein Grinsen wirkte ansteckend.
»Ich habe etwas gefunden. Es gab schon einmal einige ähnliche Fälle nach dem Erdbeben 1949. Ebenfalls in der Gegend um Pioneer Square, die damals auch ziemlich schlimm verwüstet wurde. Genau wie 2001. Die alten Gebäude stehen auf aufgeschüttetem Watt und bewegen sich immer wieder, sodass manchmal seltsame Dinge zum Vorschein kommen. Vielleicht sind das meine Vorfahren, die sich an euch rächen wollen«, fügte er mit einem Zwinkern hinzu. »Sie wissen bestimmt, dass Doc Maynard Häuptling Sealth dafür bezahlt hat, die Stadt nach seinem Namen zu benennen, obwohl so etwas für einen Indianer ein schlechtes Omen bedeutet. Denn damit bindet er seinen Geist an das, was nach ihm benannt ist. Als der alte Sealth starb, ist übrigens keiner der Weißen zu seiner Beerdigung gekommen. Ein mieser Deal.«
»Hat der Häuptling nicht etwas über die Geister der Indianer gesagt, die unsere Stadt heimsuchen würden?«,
fragte ich, da ich mich vage zu erinnern glaubte, so etwas einmal gelesen zu haben.
Fish lehnte sich auf seinem Stuhl zurück. »Nun … Da gibt es eine ganz hübsche Rede, die ihm zugeschrieben wird, die er aber meiner Meinung nach nie gehalten hat. Ich glaube nicht, dass er derart blumig gesprochen hätte. Aber das Zitat, auf das Sie anspielen, lautet folgenderma ßen – wir mussten es alle in der Stammesschule lernen: ›Diese Ufer werden eines Tages von den unsichtbaren Toten meines Stammes wimmeln. Wenn eure Kindeskinder sich allein auf dem Feld glauben, allein in einem Laden, allein auf einem Pfad oder allein in einem stillen Wald, so werden sie doch nicht allein sein. Nachts, wenn die Stra ßen eurer Städte und eurer Dörfer still daliegen und niemand mehr umherzieht, so werden in Wahrheit doch diejenigen zurückkehren, die einmal dieses schöne Land mit Leben erfüllten und es noch immer lieben.‹ Klingt fast wie eine Drohung, finden Sie nicht?«
Ich blinzelte. Der alte Häuptling hatte offensichtlich mehr gewusst, als man annahm. Auch ich wusste schließlich, dass die Geister seines Volkes noch immer durch weite Teile von Seattle zogen. Ich begegnete ihnen fast täglich. »Für mich klingt das traurig – vor allem wenn man bedenkt, dass er Angehöriger eines Volkes war, das die Toten und die Lebenden nicht vermischt sehen möchte.«
»Oh, nein. Da verstehen Sie etwas falsch. Da geht es nur um die Leichen. Bei uns gelten die Vorfahren und andere Geister als ständig präsent. Zumindest behaupten das meine Mutter und meine Großmutter. Ich selbst weiß nicht so recht, was ich glauben soll. Vor allem bin ich mir nicht sicher, ob ich als Toter die ganze Zeit hier
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