Underground
Untergrund offiziell aufgrund eines zweiten Pestausbruchs verschloss. In Wahrheit wurde ein großer Teil des Untergrunds nie ganz geschlossen. Er verwandelte sich einfach in die Unterwelt. Dieser Teil der Second Avenue – von hier bis etwa zu Qwest Field – war die berüchtigtste Gegend für große und kleine Kriminelle in der ganzen Stadt.
Auf dieser Strecke gab es mehrere hundert Frauen, die als Beruf ›Näherin‹ angaben, obwohl keine von ihnen eine Nähmaschine besaß. Viele Jahre lang zahlte die Steuer der ›Näherinnen‹ für die Feuerwehr, die Polizei, die Straßenreinigung und die Schulen. Auf diese Weise duldete man sie, ohne Seattles ertragreichstes Gewerbe, die Prostitution, jemals legalisieren und somit die angeblich aufrechten Bürger vor den Kopf stoßen zu müssen.«
Eigentlich hätte mich diese Schilderung nicht schockieren dürfen. Doch nachdem ich die Geister dieser Frauen mit eigenen Augen gesehen hatte – sowohl die erwachsenen auf der Straße als auch die Mädchen in den Schuppen der Gasse -, bedrückte mich die Tatsache doch sehr. Während ich an die Geister dachte, war ich eine Zeit lang abgelenkt. Ich hörte erst wieder zu, als der Mann sagte: »Sobald die oberen Bürgersteige errichtet waren, verlagerte sich der
größte Teil des Drogen-, Prostitutions- und Glücksspielgewerbes trotz der offiziellen Schließung in den Untergrund. Als die Prohibition ihren Höhepunkt erreichte, lief das Geschäft hier unten bestens. Die Prohibition verlieh ihm sogar neuen Schwung und ließ die Verbrechensrate gewaltig ansteigen. Jetzt war es nicht mehr die Prostitution, die unser profitabelstes Geschäft darstellte, sondern der Alkoholschmuggel … Wenn ich Sie nun weiterbitten darf …«
Wir gingen einen Korridor entlang, während in meinen Ohren die Geräusche früherer Zeiten widerhallten. Nach ein paar Minuten blieben wir vor einem Gebäude stehen, das ein Schild mit der Aufschrift 107 Saloon aufwies. Unser Führer erzählte uns von späteren Bemühungen, den Untergrund durch erdbebensichere Konstruktionen und Verstärkung der Wände zu stabilisieren, die an manchen Stellen bereits knappe zwei Meter dick waren. Ich vermutete, dass sich ein Monster, das es schaffte, eine Mauer zu durchbrechen, wie das im Great-Northern-Tunnel der Fall gewesen war, wohl kaum von den Steinen und Ziegeln hier unten aufhalten lassen würde.
Ich hörte nur mit einem Ohr zu, während unser Tourleiter von den halbherzigen Bemühungen der Stadt berichtete, das Verbrechen im Untergrund zu bekämpfen. Natürlich waren die Polizei und auch so mancher Politiker in die verschiedenen unlauteren Geschäften hier unten verwickelt, sodass sie sich nicht besonders dafür interessierten, sie ein für alle Mal zu beenden.
Ich sah mich währenddessen nach möglichen weiteren Phantominformanten um. Wir standen inzwischen im früheren 107 Saloon, wo es für ein normales Auge wohl ziemlich dunkel war. Doch für mich herrschte im Grau keinerlei Dunkelheit. Hier wimmelte es nur so von Geistern,
die gerade gemeinsam mit den Klondike-Goldgräbern und Holzfällern ein wildes Fest feierten. Als ich mir die Gäste genauer ansah, entdeckte ich zu meiner Überraschung ein mir bekanntes Gesicht.
Unter den illegalen Trinkern bemerkte ich Albert, jenen Geist, der im Haus meiner Freunde Ben und Mara Danziger wohnte. Spontan wollte ich ihn auf mich aufmerksam machen. Doch dann wurde mir klar, dass ich nur Zeugin einer Zeitschleife war. Ich sah einen Teil der Erinnerung dieses Gebäudes an seine Vergangenheit. Neugierig beobachtete ich Albert aus schmalen Augen. Ich kannte das rasche Drehen seines Kopfs und das Funkeln seiner Augen hinter den Brillengläsern genau. Schließlich hatte ich ihn erst vor kurzem im Haus der Danzigers gesehen.
Sein Anblick löste ein unangenehmes Gefühl in mir aus, das ich mir zuerst nicht ganz erklären konnte. Doch auf einmal begriff ich. Albert war der zweite Geist gewesen, der sich in dem Zombie versteckt hatte, als ich diesen unter dem Viadukt befreite! Was führte er im Schilde? Das musste ich dringend herausfinden. Die Vorstellung, dass ein unberechenbarer Geist mit den Todesfällen der Untergrundbewohner zu tun haben könnte, gefiel mir ganz und gar nicht. Vielleicht stimmte es ja auch nicht, aber ich musste sichergehen.
Ich schaffte es gerade noch, auf dem unebenen Boden nicht hinzufallen, als uns unser Führer aus dem Saloon geleitete und die Gasse hoch und hinaus zum Merchants Café brachte. Mein Knie gab
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