Unearthly. Heiliges Feuer (German Edition)
auf. Ich ziehe mir ein sauberes Shirt und Schlafanzughosen an, dann hebe ich mein ramponiertes Ballkleid vom Badezimmerfußboden auf, wo ich es fallen gelassen hatte, und werfe es in eine Ecke, wo es liegen bleibt wie ein Ballon, aus dem man die Luft herausgelassen hat.
Keine Bälle mehr für mich. Keine Ballkleider. Keine blöden Jungs mehr, die blöde Sachen machen, wie darüber streiten, wer mit mir tanzen darf oder zu wem ich gehöre.
Kein Auto mehr.
Aber Tucker lebt.
Ich nehme draußen eine Bewegung wahr und mache einen Satz zurück, mein Herz rast, obwohl ich jetzt ja weiß, dass Samjeeza nicht hierherkommen kann. Dann erscheint Christian im Fenster und steht da, als hätte er jegliches Recht der Welt dazu. Ich warte darauf, dass ich seine Stimme in meinem Kopf höre oder eine Ahnung von dem empfange, was er gerade fühlt, aber da ist nichts. Mein Kopf ist vollkommen ruhig, fest verschlossen.
Christian runzelt die Stirn. Dann hebt er die Hand und klopft leise ans Fenster.
Ich bin so schrecklich müde. Es ist, als ob ich in jedem Muskel gleichzeitig die Nacht spüre, die ich hinter mir habe. Ich will ihn ignorieren, zum Bett stolpern und mir die Decke über den Kopf ziehen.
Stattdessen gehe ich zum Fenster und öffne es mit Mühe.
«Es passt jetzt gerade nicht so gut», sage ich.
«Alles in Ordnung mit dir? Ich war vorhin schon mal da, ich wollte mich entschuldigen, weil ich mich beim Ball wie ein Idiot benommen habe, und deine Mutter hat gesagt, du hättest einen Autounfall gehabt.»
Ich habe einfach nicht die Kraft, ihm die Geschichte zu erzählen. Also strecke ich die Hand zum Fenster hinaus, lege sie ihm auf die Schulter und öffne meinen Verstand für ihn, lasse ihn jeden einzelnen grauenvollen Moment des gesamten Martyriums sehen. Als ich geendet habe, ist er bleich geworden. Ein unwillkürlicher Schauer durchzuckt ihn. Er hustet.
«Und du? Ist mit dir alles in Ordnung?», frage ich.
Er lehnt sich gegen das Fenstersims. «So was hab ich noch nie erlebt», sagt er. «Mir ist noch nie etwas … direkt in meinen Kopf gedrängt worden. Das ist ganz schön heftig.»
«Schluck es einfach runter.»
«Und deine Mutter weiß genau, dass du hier sicher bist? Sie meint nicht, es wäre vielleicht sicherer …»
«Zu fliehen? Um Hilfe schreiend davonzulaufen? Uns in ein Zeugenschutzprogramm zu begeben? Niemals. Meine Mutter sagt, das würde uns nichts nutzen. Außerdem steht das Haus hier auf geweihtem Boden.»
Er nickt, als sei diese Information keine Überraschung. Natürlich steht unser Haus auf geweihtem Boden. Ist das nicht bei allen guten Häusern so?
«Ich wünschte, ich hätte für dich da sein können», sagt er. «Dir helfen können.»
Und das meint er auch so. Und das ist nett. Aber ich bin griesgrämig. Ich bin müde. Ich bin nicht in der Stimmung für Nettigkeiten.
«Ich sollte jetzt wohl lieber gehen», sagt er.
«Tja, das solltest du.»
«Tut mir leid, was da beim Ball passiert ist», sagt er. «Das ist eigentlich nicht meine Art. Ich will, dass du das weißt.»
Er denkt, ich wäre ihm wegen dieser Sache noch böse. Als ob ich darüber noch nachdenken würde.
«Was ist nicht deine Art?»
«Mich an die Freundin eines anderen ranzumachen.»
«Das weiß ich. Ist also alles in Ordnung, wirklich.»
«Ich möchte, dass wir gute Freunde sind, Clara. Ich mag dich sehr. Ich würde dich auch dann mögen, wenn da nicht diese ganzen Aufgaben und all das Zeug wären. Ich wollte, dass du das weißt.»
Ganz im Ernst, ich bin viel zu müde für solch eine Unterhaltung. «Wir sind Freunde. Und gerade jetzt muss ich dir, als deine Freundin, sagen: Geh nach Hause, Christian. Denn dieser Tag muss jetzt endlich zu Ende sein.»
Er lässt seine Flügel erscheinen und verschwindet. Ich mache das Fenster zu. Und auch wenn ich total erschöpft bin und definitiv nicht an diesen Ball und meine Aufgabe denken will oder daran, dass alle Pfeile immer noch auf ihn zu deuten scheinen, der offenbar im Zentrum von allem steht, fühle ich mich jetzt, da er gegangen ist, doch einsam, so einsam, wie ich mich noch nie vorher gefühlt habe.
Ich hasse diese schrecklichen Stufen im Wald. Ich hasse es, wie gut ich sie kenne, wie ich mich an jeden einzelnen Quadratzentimeter von ihnen erinnere, die Risse, die Furchen im Zement, das dunkelgrüne Moos, weich wie Samt, das sie bedeckt. Ich hasse das raue Kratzen der Stufen unter meinen Füßen. Ich hasse das Geländer, an das ich mich klammere. Wenn ich hier und jetzt
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