Unendlichkeit
das. Natürlich war mir bewusst, dass Sie nicht viel davon mitbekommen haben dürften.«
»Ich erinnere mich an gar nichts«, sagte Khouri.
Volyova schwieg, bis der Captain vor ihnen auftauchte wie ein Nebelfleck. Das glitzernde, widerlich schleimige Etwas sah nicht aus wie ein Mensch, eher wie ein Engel, der vom Himmel auf den harten Boden gefallen und zerplatzt war. Der antiquierte Kälteschlaftank, der ihn noch vor kurzem umschlossen hatte, zeigte jetzt Sprünge und Risse. Er funktionierte kaum noch, was er an Kälte erzeugte, reichte nicht mehr aus, um die unerbittlich vordringende Seuche aufzuhalten. Captain Brannigan hatte inzwischen Dutzende von fadendünnen Wurzeln in das Schiff geschlagen, Wurzeln, die Volyova zwar verfolgte, aber nicht an ihrer weiteren Ausbreitung hindern konnte. Und wie würde es sich auf den Captain auswirken, wenn sie diese Fäden durchtrennte? Vielleicht waren sie ja das Einzige, was ihn noch am Leben erhielt, falls man seinen Zustand als Leben bezeichnen konnte. Irgendwann, sagte Volyova, würden die Wurzeln das ganze Schiff durchdringen und dann wären der Captain und sein Schiff wohl mehr oder weniger eins. Notfalls könnte sie das Geflecht natürlich aufhalten, indem sie diesen Bereich einfach absprengte, ihn aus dem übrigen Schiffskörper herausschnitt wie ein Chirurg in früheren Zeiten einen wuchernden Tumor. Noch nahm Brannigan nicht allzu viel Raum ein – das Schiff würde den Verlust kaum bemerken. Die Transformationen würden dann zwar weitergehen, sich aber mangels neuer Nahrung inzestuös nach innen richten, bis schließlich die Entropie dem entarteten Körper das Lebenslicht ausblies.
»Das ziehen Sie tatsächlich in Betracht?«, fragte Khouri.
»Ich ziehe es in Betracht«, erwiderte Volyova. »Aber ich hoffe, dass es nicht so weit kommt. Ich habe viele Proben entnommen – und jetzt glaube ich tatsächlich einen Fortschritt zu erkennen. Ich habe ein Gegenmittel gefunden – ein Retrovirus, das stärker zu sein scheint als die Seuche. Es zerstört die Seuchenmaschinerie schneller, als die Seuche es zerstören kann. Bisher habe ich es nur an kleinen Präparaten getestet – alles andere würde meine Möglichkeiten übersteigen. Ein Test am Captain selbst wäre ein medizinischer Eingriff, und dafür bin ich nicht qualifiziert.«
»Natürlich«, sagte Khouri hastig. »Aber wenn Sie diese Möglichkeit ausschließen, setzen Sie letztlich nur noch auf Sylveste?«
»Mag sein, aber man sollte seine oder vielmehr Calvins Fähigkeiten nicht unterschätzen.«
»Und er wird Ihnen so ohne weiteres helfen?«
»Nein, aber er hat das auch beim ersten Mal nicht freiwillig getan. Trotzdem haben wir Mittel und Wege gefunden.«
»Ihn zu überreden, meinen Sie?«
Volyova schwieg einen Moment lang und nahm einen Abstrich von einem der röhrenähnlichen Ausläufer, der im Begriff war, sich in ein Gekröse von Schiffsleitungen zu bohren. »Sylveste ist von gewissen Ideen besessen«, sagte sie. »Und solche Menschen lassen sich leichter manipulieren, als sie glauben. Sie sind so auf ihre jeweiligen Ziele fixiert, dass sie nicht immer merken, wenn sie von jemand anderem gesteuert werden.«
»Zum Beispiel von Ihnen?«
Sie steckte die hauchdünne Probe ein, um sie später zu analysieren. »Sajaki hat Ihnen erzählt, dass wir ihn hier an Bord hatten, als er auf Yellowstone einen Monat lang vermisst wurde?«
»Die ›Dreißig Tage in der Wildnis‹?«
»Eine alberne Bezeichnung«, knirschte Volyova. »Warum diese biblische Ausdrucksweise? Dabei hat er ohnehin schon einen Messiaskomplex, wenn Sie mich fragen. Wie auch immer, ja, damals haben wir ihn hierher aufs Schiff geholt. Interessant daran ist, dass die Resurgam-Expedition erst volle dreißig Jahre später von Yellowstone aufbrach. Und jetzt verrate ich Ihnen ein Geheimnis. Bis wir nach Yellowstone zurückkamen und Sie anheuerten, ahnten wir nichts von der Existenz dieser Expedition. Wir rechneten damit, Sylveste immer noch auf Yellowstone zu finden.«
Khouri konnte nach ihren Erfahrungen mit Fazil gut nachempfinden, vor welchen Schwierigkeiten Volyova und die Besatzung gestanden haben mussten, aber sie hielt es für überzeugender, die Ahnungslose zu spielen.
»Ein Fehler, sich nicht vorher zu erkundigen.«
»Keineswegs. Wir hatten durchaus Informationen eingeholt – doch die waren mehrere Jahrzehnte alt, als wir sie erhielten. Und als wir endlich danach handelten – als wir Yellowstone anflogen –, hatte sich ihr Alter noch
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