Unendlichkeit
»Wer ist schon so unvorsichtig, kein Ersatzgerät bei sich zu haben?«
»Du ganz bestimmt nicht, Ilia«, sagte Khouri.
Volyova hielt sich das Armband an den Mund und wiederholte wie ein Mantra eine Befehlssequenz, mit der sie verschiedene Sicherheitsstufen überspringen konnte. Alles schaute gebannt auf die Sphäre. Volyova sagte: »Alle Weltraumgeschütze kehren zum Schiff zurück; wiederhole: alle Weltraumgeschütze kehren zum Schiff zurück.«
Aber nichts geschah. Sekunden vergingen, die Zeit, bis der Befehl bei Lichtgeschwindigkeit eintraf, war abgelaufen. Aber die Geschütze reagierten nicht. Nur die schwarzen Totenköpfe auf dem Display wurden rot und begannen in bedrohlicher Regelmäßigkeit zu blinken.
»Ilia«, fragte Khouri. »Was hat das zu bedeuten?«
»Sie machen sich scharf und bereiten die Zündung vor«, sagte Volyova ruhig. Sie schien kaum überrascht. »Gleich wird etwas Schreckliches passieren.«
Achtundzwanzig
Cerberus/Hades, an der Heliopause von Delta Pavonis, 2566
Wieder hatte Volyova die Kontrolle verloren.
Sie musste hilflos zusehen, wie die Weltraumgeschütze das Feuer auf Cerberus eröffneten. Die Strahlenwaffen fanden das Ziel natürlich zuerst und meldeten den Treffer mit einem bläulichweißen Lichtblitz, der genau an der Stelle der grauen, trockenen Oberfläche aufflammte, wo in Kürze der Brückenkopf aufschlagen sollte. Die relativistischen Projektilwaffen waren kaum langsamer. Nur wenige Sekunden später trafen auch von ihnen Erfolgsmeldungen ein: Neutronenund Antimateriegeschosse krachten in die Kruste und erzeugten spektakuläre Druckwellen. Volyova schrie immer wieder die Befehle zur Entschärfung in ihr Armband, obwohl sie eigentlich kaum noch Hoffnung hatte, die Waffen beeinflussen zu können. Zunächst hatte sie törichterweise gedacht, das Ersatzarmband sei defekt, aber das konnte natürlich nicht der Grund sein, warum sich die Waffen selbständig gemacht hatten. Sie hatten gezielt gefeuert; und ebenso gezielt hatten sie ihren Befehl missachtet, in den Rumpf des Schiffes zurückzukehren.
Eine andere Instanz hatte das Steuer übernommen.
»Was ist los?«, fragte Pascale, ohne wirklich eine vernünftige Antwort zu erwarten.
»Es muss Sonnendieb sein«, sagte Volyova und ließ das Armband endlich in Ruhe. Es gab ohnehin keine Aussicht mehr, die Kontrolle über die Waffen zurückzugewinnen. »Khouris Mademoiselle kommt nicht in Frage. Selbst wenn sie noch imstande wäre, die Geschütze zu beeinflussen, würde sie alles tun, was in ihrer Macht steht, um diese Entwicklung zu verhindern.«
»Ein Teil von ihm muss im Leitstand geblieben sein«, sagte Khouri und brach so plötzlich ab, als bedauere sie die Worte. Nach einer Weile fügte sie hinzu: »Ich meine, wir wussten immer, dass er in den Leitstand eingreifen konnte – nur deshalb konnte er schließlich Widerstand leisten, als die Mademoiselle Sylveste mit dem ersten Geschütz töten wollte.«
»Aber mit solcher Präzision?« Volyova schüttelte den Kopf. »Nicht alle meine Befehle an die Weltraumgeschütze gehen über den Leitstand; ich wusste ja, dass ich das nicht riskieren durfte.«
»Soll das heißen, dass auch die anderen nicht wirken?«
»Sieht ganz danach aus.«
Auf dem Display war zu sehen, dass die Geschütze nicht mehr feuerten. Sie hatten ihre Energie oder Munition verschossen und gingen nun in einen Orbit um Hades. Dort würden sie ein paar Millionen Jahre untätig verharren, bis sie durch Gravitationsschwankungen aus der Bahn gedrängt wurden. Dann würden sie auf Cerberus stürzen oder zu den Trojanischen Punkten hinausgeschleudert werden, um dort vielleicht sogar den Tod des Roten Riesen Delta Pavonis zu überdauern. Für Volyova war es ein gewisser Trost, dass niemand die unbrauchbaren Waffen mehr gegen sie einsetzen konnte. Aber für solche Überlegungen war es viel zu spät. Der Schaden gegen Cerberus war bereits angerichtet, und der Brückenkopf war kaum noch aufzuhalten. Die Wirkung des Angriffs war bereits auf dem Display zu beobachten. Am Aufschlagspunkt schossen Fontänen von pulverisiertem Regolith ins All.
Sylveste erreichte die Krankenstation. Sajaki hing zentnerschwer an seiner Schulter. Der Mann wog viel zu viel für seinen schmächtigen Körper, dachte Sylveste. Ob das wohl am Gewicht der Maschinen lag, die durch sein Blut strömten oder in seinen Zellen schliefen, bis sie durch eine Krise wie diese aktiviert wurden? Sajaki fühlte sich auch heiß an, als hätte er Fieber –
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