Unglaubliche Reise des Smithy Ide
will auch etwas kaufen. Ich muss nur erst telefonieren.«
Eine Frau meldete sich beim zweiten Klingeln.
»Hm?«
»Ja. Ja. Ich versuche Bill Butler zu erreichen. William Butler, schätze ich.«
»Sie wollen Bill Butler?«
»Ja. Ich bin Smithy Ide.«
»Sie sind Ide?«
»Ja.«
Es war lange still, und die Stille war weder gut noch schlecht. Es war eine nichts sagende Stille.
»Ist das der Bill Butler, der in Vietnam war?«
»Er war in Vietnam. M-hm. Wer ist da?«
»Smithy Ide. Bill hat mir das Leben gerettet.«
»Er hat nie was davon gesagt, dass er wen gerettet hätte.«
»Ist er da?«
Sie lachte.
»Oder kommt er später? Ich bin in East St. Louis, und …«
»Wo?«
»Wo bin ich hier?«, rief ich zu der Frau hinter der Ladentheke hinüber.
»Sie sind im Great-Full Sunrise Food Store.«
»Im Great-Full Sunrise Food Store«, sagte ich ins Telefon.
»Bei den Schlitzaugen?«
»Ääh, ja.«
»Fahren Sie zwei Blocks weiter in die Stadt; an der Ecke sind’n paar Backsteinhäuser. Jedes hat’ne Nummer. Butler wohnt in elf. Apartment 417.«
Ich kaufte mir Kaugummi im Great-Full Sunrise Food Store. Wahrscheinlich hätte ich mehr kaufen sollen, weil ich es ja versprochen hatte, aber ich hatte keinen Hunger, denn ich hatte vier Bananen zu Mittag gegessen.
Ich fand Nummer elf, und dann stand ich vor der Tür von 417. Ich dachte an meine Schwester. Ich musste sehr an sie denken, denn abgesehen davon, dass es der dreckigste, verkommenste Ort war, an dem ich je gestanden hatte – selbst in Vietnam -, roch es im Hausflur wie in Bethanys Hippiekommune, wo sie ihren eigenen Dünger produziert hatten. So furchtbar war es. Wie konnten Menschen hier wohnen? Was konnten sie tun, um es in Ordnung zu bringen? Es stimmt wohl: Menschen können alles ertragen.
»Ide?«
»Ja.«
Sie war ein gewaltiges menschliches Wesen mit entkraustem Haar, das gelblich-orange gefärbt war. Ihre Haut war braun und glatt, aber es war eindeutig mehr Haut, als ein Mensch haben sollte.
»Ich bin Theresa. Wo parken Sie?«
»Ich hab ein Fahrrad. Es steht unten beim Aufzug.«
»Benutzen Sie den Aufzug nicht. Hab ich das nicht gesagt?«
»Nein.«
»Holen Sie Ihr Rad und bringen Sie es rauf.«
Ich ging die Treppe hinunter und holte mein Rad. Ich trug es nicht gern die Treppe hinauf, denn hier stank es noch schlimmer als anderswo im Haus. Sie hielt mir die Tür auf, damit ich es hineinschieben konnte.
Innen war Theresas Wohnung makellos. Der Küchenfußboden roch angenehm nach Ammoniaklauge. Anmutige gelbe Vorhänge hingen an den Fenstern und verdeckten die Gitter davor. Unter dem Esstisch aus blondem Holz lag ein wunderschöner Teppich, hellbraun und mit einem Ring aus eingewebten Schwarzdrosseln. Im Wohnzimmer stand ein altes Klavier mit einer glänzenden blauen Lackschicht. Ein kastanienbrauner Teppichboden reichte von Wand zu Wand, und ich sah eine gebogene, mit grünem Cord bezogene Couch, einen Ruhesessel mit einem Kipphebel an der Seite und einen schwarzen John-F.-Kennedy-Schaukelstuhl mit einem grünen Kissen. Ein großer Fernseher lief, und davor saß ein kleiner Junge von vielleicht vier Jahren und sah sich einen Tom-und-Jerry-Cartoon an.
»Ich hab hier noch nie einen Weißen gesehen. Noch nie. In zweiunddreißig Jahren. Hat früher meiner Mama gehört, die Wohnung. Jetzt mir. Sie schicken sogar schwarze Polizisten. Sind Sie Polizist?«
»Nein, Ma’am. Ich bin Smithy Ide. Bill hat mir das Leben gerettet.«
Sie warf den Kopf in den Nacken und lachte. Es war ein hohes und komplettes Lachen.
»So ist Bill, o ja, so ist Bill. Rettet Leben. Sagt aber nichts.«
Ich sah Bills Foto. Er war in Uniform und lächelte hinter Glas in einem Rahmen auf dem Klavier. Daneben standen Fotos mit verschiedenen Schwarzen in verschiedenen Perioden amerikanischer Zeiten.
»Das ist Bill.« Sie zeigte auf das Foto und lächelte, dass ihre wunderschönen Zähne aus dem Mund leuchteten.
»Und das ist Bills Vater Bill, und das ist Bills Junge Bill.«
»Ihr Junge?«
»M-hm«, sagte sie ernst. »Und Moona, so nannten wir ihn. Unser Grampa.«
Ein Mann mit kurz geschnittenem Haar stand entspannt in einer Uniform aus dem Ersten Weltkrieg da; er hatte Sergeant-Streifen auf dem Ärmel und starrte wichtig ins Zimmer.
»Und das ist Bills Junge Alvin.«
»Auch Ihrer«, sagte ich fröhlich.
»Nein.« Sie schüttelte den Kopf. »Und meine Mama, und Bills Mama, die als junges Mädchen gestorben ist, und mein Mädchen Lorraine, das nicht von Bill ist, und
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