Ungnade: Thriller (German Edition)
plumpsen ließ. Sie schloss die Augen und sah wieder die Fernsehbilder von der Hütte vor sich: Es wimmelte von Kriminaltechnikern in weißen Overalls mit Mundschutz. Und dann die Zelte, in denen sie ihre gesammelten Beweismittel beschrifteten, in Beutel verpackten, aufbewahrten.
Fernsehteams und Fotografen mit riesigen Objektiven am Seeufer– des anderen Sees–, die darauf warteten, dass man die Toten in Säcken heraustrug, einen nach dem anderen.
Und ich mittendrin, dachte sie.
Cahills sich ständig wiederholender Kommentar: » Selbst schuld.«
Vielleicht hatte er ja recht. Die polizeiliche Untersuchung förderte nicht viel zutage, und nach einer oder zwei Wochen blutrünstiger Schlagzeilen über einen Krieg russischer Banden, der in Schottlands lieblicher Landschaft ausgetragen wurde, ließ auch das Medieninteresse rapide nach.
Jeder hatte ihnen ihre Geschichte abgekauft; dabei hatte es sich als günstiger Umstand erwiesen, dass die DNA an Pennys Leiche mit der des Russen, der in der Bar erschossen worden war, übereinstimmte. Die Polizei war immer zufrieden, wenn sie etwas durch ihren Computer laufen ließ und der Übereinstimmungen ausspuckte. So konnte man die Akte schließen, ohne allzu viel darüber nachdenken zu müssen, wie denn ansonsten alle Fakten zusammenpassten. Es gab einen gewaltbereiten Kriminellen, der unbestritten am Tatort gewesen war, und die Tatsache, dass er nicht mehr lebte, ersparte dem Staat zudem die Kosten einer Gerichtsverhandlung und der Unterbringung im Gefängnis. Die Sache war wie ein hübsch verpacktes Geschenk.
Sie hatten Glück gehabt– so viel stand fest.
Doch Ellie hatte ein schweres Trauma erlitten. Auch daran bestand kein Zweifel, obwohl man es ihr kaum anmerkte. Sie sprühte scheinbar vor Energie.
Wacht sie mitten in der Nacht auf? So wie ich? Oder Logan? Sehen wir alle die gleichen Gespenster?
Es gibt einen Traum, den Rebecca immer wieder träumt. Sie ist in Ellies Zimmer, greift gerade nach dem Tagebuch, das in dem Fach ihres Wandschranks liegt, als sich plötzlich etwas in dem Schrank bewegt. Sie kann nicht widerstehen. So sehen ihre Albträume aus.
Unerbittlich.
Unerträglich.
Sie betritt den Wandschrank, aber es ist nicht so wie in den » Chroniken von Narnia«. Im Schrank herrscht Finsternis. Dann sieht sie, was sich bewegt hat– ein Sack, in dem man normalerweise Leichen abtransportiert. Der Reißverschluss bewegt sich nach unten, wird von innen aufgezogen, und eine Hand kommt zum Vorschein…
Rebecca öffnete die Augen und blinzelte in die Sonne. Roddy hatte sich neben sie gekniet, eine leichte Brise wehte ihm Haarsträhnen ins Gesicht. Dieser alberne Verband um seinen Kopf. Wollten die, dass er wie ein Idiot aussah?
Dann war es ihnen fast gelungen.
» Was ist los mit dir?«, fragte er, als er ein Lächeln ihre Lippen umspielen sah.
Sie streckte den Arm aus, wischte ihm das Haar aus der Stirn und schob es hinter sein Ohr. » Alles in Ordnung«, sagte sie mehr zu sich als zu ihm. Dann schloss sie wieder die Augen und holte tief Luft.
Der Harz der Bäume, kristallklares Wasser– dann dröhnte auf der anderen Seite des Sees ein Jetski vorbei.
Roddy bewegte sich. Die Erde knirschte unter seinen Schuhsohlen, und seine Knie knackten, als er sich aufrichtete, um den kurzen Abhang zum See hinunterzuschlendern. Sie sah, wie er sich bückte und Wasser über seine Hände spritzte. Sie runzelte die Stirn, wunderte sich, was er tat, aber da drehte er sich auch schon wieder zu ihr um. Diamantene Tropfen fielen von seinen Händen, mit denen er eine Schale geformt hatte. In ihnen brach sich das Sonnenlicht.
Vorsichtig ging er auf sie zu, verlor unterwegs etwas von dem Wasser, und als sie aufblickte, öffnete er seine Hände. Das Wasser fühlte sich eiskalt an, als es auf ihre Haut fiel. Rebecca ließ es sich über das Gesicht rinnen und wischte es sich dann von der Wange ins Haar, während die Sonne auf ihre Stirn brannte. Mit ihr in seinem Rücken stand Roddy über ihr, nur noch eine Silhouette.
Sie erhob sich, bedankte sich und ging zurück zum Wagen.
Eine halbe Stunde lang schwieg er, während sie den See hinter sich ließen, in nordwestliche Richtung fuhren und auf Rannoch Moor und das Tal von Glencoe zusteuerten.
» Sieht so aus, als bräuchten wir beide mal eine Auszeit«, sagte er schließlich.
» Ich danke dir, Roddy. Dafür, was du getan hast, meine ich– und dafür, dass du nicht gefragt hast.«
» Schon gut. Aber eins würde ich nun doch gern
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