Unheilig (Die Chroniken der Schatten) (German Edition)
zurückgelassen. Nach über einer Woche hatte sich dieser mysteriöse „Freund“ noch immer nicht blicken lassen und war auch sonst nicht mit ihr in Kontakt getreten.
Ihr Hals brannte wie Feuer. Seit mehr als fünf Tagen hatte Kyra nichts mehr getrunken und sie fühlte sich ausgezehrt. Sie brauchte dringend frisches Blut, gleichzeitig fürchtete sie sich jedoch vor den Folgen, die ihr Verhalten nach sich ziehen würden. Joe hatte ihr mehrere Male mit den Konsequenzen gedroht, wenn sie wieder töten würde. Sie befand sich im Zentrum eines unlösbaren Dilemmas und wusste keinen Ausweg.
Mit finsterem Gesicht ging sie die Hauptstraße entlang zum Park, um sich dort auf eine Bank zu setzen. Ihre Hand war längst wieder geheilt, trotzdem fühlte sich diese schnelle Genesung fremd für sie an. Sie strich mit den Fingern über die Stelle, wo kurz zuvor noch eine tiefe Wunde geklafft hatte und tastete nach einer Narbe. Doch ihre Haut war glatt und weich wie immer. Mit der Zunge fuhr sie an ihren verlängerten Eckzähnen entlang. Noch immer war sie nicht in der Lage, sie wie Joe einfach ins Zahnfleisch zurückzufahren. Es ärgerte sie, dass er Dinge konnte, zu denen sie nicht fähig war.
Der Wind wehte kräftig durch ihr schulterlanges Haar, doch sie spürte seine Kälte nicht. Überall waren die Menschen in dicke Jacken gehüllt, während sie selbst den Mantel nur trug, um nicht aufzufallen. Sie fühlte weder Eis noch Frost, weder den kalten Hauch einer scharfen Brise noch den stetig fallenden Schnee auf ihrem Gesicht. Schnee in Los Angeles. Kyra war so in ihr Problem vertieft, dass ihr kaum auffiel, wie ungewöhnlich das war. Ihr Körper war blind für derartige Empfindungen. Es stimmte sie traurig, dass sie so einfache Gefühle wie Schmerz oder Kälte nicht mehr mit der gleichen Intensität wahrnahm wie zuvor. Ewig zu leben ohne jemals krank zu werden war eine verlockende Vorstellung, bis man begriff, welche Opfer sie mit sich zog. Den Verlust von allem, was man je geliebt hatte, einfache Freuden wie Eis essen oder sich mit Freunden am Strand sonnen. Kyra versuchte sich, von den Erinnerungen ihrer Vergangenheit zu lösen. Sie konnte nicht mehr zurück, warum sich also selbst bemitleiden?
Der Arlington Park in South Los Angeles war in einen Schleier des Schweigens gehüllt. Nur das von Mäusen verursachte Rascheln der Blätter auf dem Boden ließ auf Leben schließen. Die Stille dröhnte in ihrem Kopf und verursachte ein leichtes Schwindelgefühl, welches, wie Kira vermutete, nicht allein von der merkwürdigen Ruhe kam. Wie überlebten die anderen Vampire nur, wenn sie sich nicht am Blut lebender Menschen bedienten? Wie schafften sie es nur, ihren Durst zu stillen, ohne dabei zu töten? Hatten sie Fähigkeiten, die Kyra nicht besaß? War es möglich, diese zu erlernen? Oder gab es eine alternative Energiequelle?
Sie fühlte sich wie ein in einer fremden Gegend ausgesetztes Kleinkind. Nicht wissend, was das Richtige war und wie sie am Leben blieb. Sie starrte quer über eine Wiese, die von Bäumen und einem kreisrunden Kiesweg gesäumt war. Auf der gegenüberliegenden Seite spazierte ein Pärchen vorbei. Eine fixe Idee schwoll in ihrem Inneren an und noch bevor sie sich wirklich darauf besann, war sie schon aufgestanden. Kyra schritt zielstrebig auf die beiden zu, Aufregung schwoll in ihr an. Das darfst du nicht. Man hat dich gewarnt. Aber der Hunger war unerträglich. Sie wusste sich nicht zu helfen. Mit einer Mischung aus grimmiger Zufriedenheit und Verzweiflung sah sie ihr Ziel vor sich und ließ es nicht aus den Augen. Nimm den Mann. Du kannst der Frau doch nichts antun. Aber der Mann...
Nur noch wenige Schritte trennten Kyra von ihrer Beute. Die beiden hatten noch nichts bemerkt. In ihrem Kopf begann es zu hämmern. Adrenalin. Sie war kurz davor ... so kurz davor, das zu bekommen, wonach sie verlange – da legte sich von hinten eine Hand auf ihre Schulter.
„Du wirst doch nicht ernsthaft so dumm sein?“
Kyra erschrak und drehte sich um. Es war ein Mann mit braunen, gelockten Haaren in einem schwarzen Woll-Trenchcoat. Er stand dicht hinter ihr und starrte sie eindringlich an.
„Nicht wahr?“, hakte er nach und bohrte dabei seine Nägel schmerzhaft in ihre Schulter.
Sie war kurz davor, ihm einen Schlag zu versetzen, als sie seinen süßlich verwesenden Geruch wahrnahm. Sie zog die Augenbrauen
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