Unheilig (Die Chroniken der Schatten) (German Edition)
Anwesen besaß weit mehr als vierzig Zimmer, wovon jedoch nur eines heute benutzt wurde. Der Speisesaal, einst wunderschön und mit marmornen Büsten und Blattgold geschmückt, hatte viel von seinem ursprünglichen Glanz verloren. Jetzt waren die zerrissenen Samtvorhänge zugezogen, um Licht und neugierige Blicke draußen zu halten. Das Geschirr stand fleckig und teilweise zerbrochen in den Vitrinen, die sich in allen vier Ecken befanden. Die früher so stattliche Ebenholztafel hatte sich unter der jahrelangen Last von Speisen und Getränken gebogen und das Holz splitterte bereits an mehreren Stellen ab. Der Raum wirkte verlassen und düster, die Luft war staubig und nur schwer zu ertragen. Die zwölf Mitglieder des Hohen Rates setzten sich an den langen Tisch und legten ihre schwere Reisekleidung ab. Amelie nahm den Platz an der Spitze der Tafel ein. Durch die von Motten zerfressenen Vorhänge fiel ein klein wenig Licht auf ihre Versammlung und ließ die Augen eines jeden einzelnen von ihnen glühen. Amelie entzündete die wenigen Kerzen, die auf dem Tisch standen und eine unbehagliche Ruhe trat ein. Die Blicke der versammelten Vampire waren starr auf sie gerichtet.
„Meine geschätzten Brüder und Schwestern“, sagte sie mit ihrer sanften, tief klingenden Stimme und ließ ihre erhobenen Hände über die Anwesenden schweifen. „Als die, dessen Ruf ihr gefolgt seid, ist es an mir, euch eine beunruhigende Nachricht mitzuteilen. Marius ist in unsere Mitte zurückgekehrt.“
Sie ließ die Worte auf die anderen wirken. Manche von ihnen schienen entsetzt, andere waren einfach nur ungläubig.
„Marius ist tot“, behauptete Ademar, dessen lange blonde Locken und rundes Gesicht ihn fast kindlich wirken ließen. „Er wurde vor fünfhundert Jahren zusammen mit allen anderen Ältesten von den Jägern vernichtet.“
„Das“, antwortete Amelie ruhig, „haben auch wir jahrhundertelang angenommen. Doch meinen Quellen zufolge ist er vor etwas mehr als drei Monaten wieder in einer Stadt am pazifischen Ozean aufgetaucht und hat ein junges Mädchen angegriffen.“
William, ein schwarzhaariger Vampir mit Kinnbart, dessen altertümliche Kleidung ihn sehr aristokratisch wirken ließ, beugte sich leicht nach vorne.
„Von welchen Quellen sprecht ihr?“, fragte er und die anderen Vampire nickten bei dieser Frage zustimmend.
„Woher ich mein Wissen bekomme ist nicht von Belang“, wies ihn Amelie in die Schranken und William senkte demütig den Kopf. „Es gibt Hinweise, dass Marius eine Lilie erschaffen haben soll. Wir müssen handeln, bevor sie Verderben über uns alle bringt.“
Die restlichen Mitglieder des Hohen Rates stöhnten leise auf. Viele von ihnen traf diese Neuigkeit überraschend.
„Gibt es Beweise, dass die Gerüchte wahr sind?“, fragte William ernst. „Wurde sie bereits gefangengenommen?“
Amelie reckte den Hals.
„Es gibt weder Beweise für ihre Existenz, noch wurde sie bis jetzt in Gewahrsam genommen“, gab sie zu. „Doch ich vertraue meinem Informanten. Er hat sich dieser Aufgabe bereits angenommen und jemanden auf das Mädchen angesetzt. Sobald sie festgenommen wurde, wird sie uns für eine Prüfung übergeben.“
Sie sah in die Runde. Keiner von ihnen schien ihr wirklich zu glauben. Sie hatten so lange angenommen, dass die Ältesten zu Staub zerfallen waren, dass sie fast in Vergessenheit geraten waren.
„Wo befindet sich das Mädchen im Moment?“, fragte Ademar.
„Sie lebt in Los Angeles in Kalifornien in einem kleinen Appartement. Offenbar hat sie schon mehrere Menschen getötet und die Aufmerksamkeit der örtlichen Polizei auf sich gelenkt. Noch ein Grund, warum sie gestoppt werden muss.“
„Moment mal, sagtet Ihr Los Angeles?“, fragte William.
Eine kurze Pause trat ein.
„Lebt dort nicht auch Jonathan?“
Ein Raunen ging durch die Anwesenden und Amelie musste schlucken. William stand auf und sah ihr starr in die Augen.
„Ist er Eure Quelle? Hat er Euch erzählt, in seiner Stadt lebe eine Lilie?“
„In der Tat.“ Amelie sah ein, dass sie diese Tatsache nun nicht länger verbergen konnte. „Er hat mich vor ein paar Tagen kontaktiert. Ich halte seine Beweise für aussagekräftig.“
William schnaubte nur.
„Wir alle wissen, wie paranoid Jonathan ist.
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