Unheilig (Die Chroniken der Schatten) (German Edition)
nicht gewollt.“
„Glaub ihm kein Wort!“, keifte Amelie aufgeregt. „Er versucht nur, seine schäbige Haut zu retten! Töte ihn!“
Kyra war maßlos verwirrt. Ihre Augen waren auf Seth gerichtet, der aussah wie ein jämmerliches kleines Baby und furchtbar zitterte. Sie wusste nicht, was sie tun sollte und fing an, schwer zu atmen. Ihr Körper schmerzte und sie konnte kaum einen klaren Gedanken fassen, als sie Seth so hilflos am Boden kauernd sah. Bildfetzen huschten an ihrem inneren Auge vorbei. Der Tag, an dem sie Seth zum ersten Mal begegnet war, der Kampf mit dem Wendigo, sein Gesicht, dass sie immer freundlich angelächelt hatte, all die schönen Stunden...
„Töte ihn endlich!“, schrie Marius wütend. „Töte ihn, oder wir tun es!“
Kyra blickte sich hektisch um und versuchte, sich wieder zu sammeln, doch es gelang ihr nicht. Marius und Amelie schrien auf sie ein, Seth schluchzte erbärmlich und Daniel zuckte noch immer wie unter Folter. All das machte es ihr schwer, sich zu konzentrieren. Sie konnte spüren, wie ihr Herz immer schneller schlug und sich verkrampfte, spürte, wie sie eine merkwürdige Hitze überkam und ihre Knie weich wurden.
„Töte ihn!“, schrie Marius wieder.
„Ja...“, hauchte Kyra, obwohl sie sich überhaupt nicht bewusst war, dass sie sprach.
Es war, als würde die Umgebung verschwimmen. Einzig und allein Seth's Körper hielt sie in ihrem Bann, alles andere konnte sie nicht mehr wahrnehmen. Plötzlich war sie sich nicht mehr so sicher, ob sie sich wirklich an ihm rächen wollte. Im Grunde hatte er ihr nie etwas getan. Sie lebte, obwohl er versucht hatte, sie zu töten. Sie war davongekommen, bei bester Gesundheit und immerhin hatte er sich entschuldigt. Sollte sie ihm nicht einfach Gnade erweisen?
„Das reicht jetzt!“, schrie Marius zornig und packte Kyra grob am Arm. „Wenn du ihn nicht augenblicklich tötest, werde ich es tun und du wirst für deine Schwäche zur Rechenschaft gezogen! Jetzt tu endlich deine Pflicht!“
Er schubste sie von sich weg, so dass sie stolperte und zeigte ihr die Zähne. Kyra sah ihn an und eine undefinierbare Furcht überkam sie. Marius würde sie töten, wenn sie seinem Willen nicht folgte. Sie drehte sich wieder zu Seth um, der jetzt aufhörte zu weinen.
„Wenn du meinst, dass ich den Tod verdient habe, dann töte mich“, sagte er. „Aber ich war nie dein Feind und werde es auch nie sein.“
„Hör auf mit diesem rührseligen Geschwätz!“, keifte Amelie. „Dein Tod ist unausweichlich, also mach nicht so ein Drama daraus!“
Die Worte brannten sich in Kyras Kopf wie glühende Eisen und ließen sie erbeben. Das war alles nicht richtig. So viel Grausamkeit war ihr widerfahren und nun war sie dabei, dasselbe jemand anderem anzutun. Irgendetwas lief hier fürchterlich schief. Das war alles nicht richtig.
„Du bist kein böser Mensch“, sagte Seth leise. „Ich weiß, du wirst dich richtig entscheiden.“
Amelie lachte, doch Kyra ignorierte es und ging erneut vor Seth auf die Knie. Er sah sie an und diesmal lag keinerlei Furcht in seinen Augen. Im Gegenteil, er lächelte matt und schloss dann die Augen, bereit für das, was auch immer nun auf ihn zukam.
Du bist kein böser Mensch.
Die Worte wiederholten sich in Kyras Kopf, immer und immer wieder, bis sie alles andere auslöschten. Es stimmte. Sie war nicht von Grund auf böse. Sicherlich hatte sie es den Menschen in ihrer Umgebung nie besonders leicht gemacht, aber sie war kein schlechter Mensch. Sie wusste, was richtig und falsch war, sie besaß eine Moral und in diesem Moment empfand sie es als falsch, jemanden zu töten, den sie nach wie vor zu ihren Freunden zählte. Sie lachte leise und das Rot in ihren Augen erlosch allmählich. Hinter ihrem Rücken wurde Marius nun immer wütender.
„Wehe, du tust nicht das, was man dir sagt!“, zischte er. „Dieser Mensch hat dich betrogen! Er wollte dich töten, nur weil du nicht seiner Rasse angehörst! Was verdient er deiner Meinung nach, wenn nicht den Tod?“
Die Antwort auf diese Frage fiel Kyra leicht.
„Eine kräftige Ohrfeige.“
Sie klatschte Seth ihre Hand flach ins Gesicht, worauf er ungläubig die Augen aufriss. Das nächste was er sah war, dass Kyra sich umdrehte und mit einem gewaltigen Satz auf Marius
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