Unheilig (Die Chroniken der Schatten) (German Edition)
Schwester. Wie gut sie sich erinnern konnte. Seit den vergangenen vier Monaten waren die Erinnerungen an ihr Leben immer mehr verblasst. Doch an ihre Schwester konnte sich Kyra noch sehr genau erinnern. Sie war zwei Jahre jünger, ein Engel mit dunkelblonden Locken und blauen Augen. Dagegen wirkte Kyra immer ein wenig langweilig. Sie hatte keine niedlichen Sommersprossen auf der Nase. Das Gesicht ihrer Schwester verschwamm vor ihren Augen, als sich diese mit Tränen füllten. Daran war nur Marius schuld! Er hatte ihr alles genommen. Warum hatte er ausgerechnet sie ausgesucht? Was war so besonders an ihr? Kyra wollte dieses Leben nicht. Es war aufregend und spannend, aber auch einsam. Sie wollte zurück nach Hause und einfach ganz normal weitermachen. Studieren. Einen Jungen kennenlernen. Vielleicht Kinder bekommen. Ein Haus kaufen. Sich einen Hund anschaffen. Oder eine Katze. Sie wollte einfach nur ein stinknormales Leben führen, wie jeder andere auch.
Sie wischte sich mit dem Handrücken die Tränen aus dem Gesicht. Kyra war so aufgewühlt, dass sie sich aufsetzte und zum Fenster sah. Durch die Gardinen schimmerte ein wenig trübes Licht und Kyra spürte, dass es bald regnen würde. Sie stand auf und verließ das Zimmer. Der lange, dunkle Gang wirkte trostlos und düster wirkte. Es hingen keine Bilder an den limonengrün gestrichenen Wänden und die Lampen an der Decke waren von einer dicken Staubschicht bedeckt. Der Westflügel, so hatte Alexander ihr erzählt, war für alle Auszubildenden verboten. Links und rechts liefen Türen entlang, doch bis auf ihr eigenes Zimmer waren alle verschlossen waren. Kyra rüttelte an den Knäufen, doch als sie aus Versehen eine der Türen beinahe aus den Angeln hob, ließ sie es sein. Der gähnend leere Gang bog nach rechtsab und führte in einen weiteren Gang, der ebenso verlassen war. Nach einer Weile kam sie wieder an eine Kurve und lief erneut nach rechts. Der Flur hier war das komplette Gegenteil als der im Westflügel. Er war hell und einladend und vielen Bilder schmückten die Wände. An allen Fenstern hingen weiße Gardinen und die Lampen blitzten, als wären sie soeben blank poliert worden. Auch waren die Wände hier nicht grün und verschlissen, sondern zartgelb mit roten und goldenen Farbtupfern. Nirgendwo blätterte die Farbe ab. Kyra betrachtete die Aquarelle und Ölbilder und konnte nicht umhin festzustellen, dass diese sie irgendwie anwiderten. Ein paar zeigten, wie in ihrem eigenen Zimmer, Engel und Heilige, die beteten oder sangen. Auf anderen jedoch waren die grotesken und verstümmelten Gestalten von Menschen abgebildet, die von grausigen Kreaturen gefoltert, zerstückelt und ermordet wurden. Eines dieser Monster war ein ziemlich hässlicher und gar nicht wahrheitsgetreu dargestellter Vampir mit roten Augen und riesigen Flügeln. Sie wirkten wie die Schwingen eines monströsen Insekts. Kyra vermutete zumindest, dass es sich hier um einen Vampir handelte. Die Umrisse waren nicht klar zu erkennen, nur die leuchtenden Augen und die annähernd menschliche Gestalt. Und natürlich der blutüberströmte Leichnam eines jungen Mädchens zu seinen Füßen. Sie schüttelte den Kopf und wanderte langsam weiter. Nur wenige Stimmen waren zu hören. Durch das vielstimmige Echo konnte sie deren Ursprungsorte nicht genau ausmachen.
Urplötzlich wurde eine Türe zu ihrer linken aufgerissen und Kyra bremste erschrocken ab. Der junge Mann, der aus der Türe gestürmt kam, tat es ihr gleich. Er fror mitten in der Bewegung ein, eine Hand noch immer am silbernen Türgriff und starrte sie an.
Er hatte strohblonde Haare und grünblaue Augen. Sein grauer Kapuzenpullover sah verwaschen aus, ebenso die dunkelblaue Jeans. Er sah jung aus. Vielleicht Anfang zwanzig. Und doch besaß er einen muskulösen Körper, der sich unter seiner Kleidung abzeichnete. Er sah Kyra mit unverhohlenem Interesse an, doch er wirkte nicht begeistert.
„Mädchen haben im Ostflügel nichts verloren“, sagte er. „Geh zurück in den Nordflügel.“
„Was?“
„Du hast schon richtig gehört.“
Er schloss die Türe hinter sich und stemmte die Hände in die Hüften.
Kyra blickte ihn verständnislos an.
„Bist du neu hier?“
Sie nickte. Wusste er nicht, wer sie war?
„Na dann.“ Er streckte die Hand aus und grinste. „Ich bin Seth.“
Kyra betrachtete ihn. Er sah gut aus.
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