Unheimliche Begegnungen (German Edition)
seine Waffe fester und schwor, an dem Rache zu nehmen, der diesem Kind das angetan hatte.
Der Junge, er schätzte ihn auf zehn Jahre, war inzwischen eingeschlafen.
Vinc setzte sich neben Vanessa und sah ihr in die Augen, aus denen doch Tränen kullerten und wie Perlen die Wangen hinabliefen. Als sie sagte: „Wer tut denn so etwas einem Kind an? Welche grausame Bestie kann so etwas tun? Wir sind doch auf der hellen Seite …“ Sie stockte „…Es gibt nur einen, der dazu fähig ist.“
„Der Tyrann“, antwortete Vinc und nahm ihr die Worte aus dem Mund.
Auf einmal bäumte sich der Junge auf und sah sie mit weit aufgerissenen Augen an: „Wo sind meine Freunde?“
Vinc ahnte, wer der Junge war. Es musste ein Kind der Geächteten sein und war scheinbar dem Massaker entkommen, dem die Geisterkinder zum Opfer gefallen waren.
„Sie sind in Sicherheit“, sagte Vinc, dem im Moment nichts anderes einfiel. Er sah Vanessas strafenden Blick. Er wusste, sie hasste Lügen, aber war es nicht eine Lüge zum Trost des Jungen? Sollte er ihm sagen, dass sie wahrscheinlich alle tot waren? Im Grund hatte er ja nur halb gelogen, sie waren in Sicherheit, nur in einer anderen Welt. Nach dem Gesang zu urteilen, in einer friedlichen heilen. Er wusste, aber ebenso Vanessa auch, dass dieses Kind bald sterben würde.
Vanessa strich ihm immer wieder über das Haar. Sie sah, wie beruhigt sein Gesichtsausdruck wirkte, als er die tröstenden Worte von Vinc vernommen hatte.
„Helft ihnen, sie sind in großer Gefahr. Sie sollen ermordet werden, nur weil unsere Eltern für das Gute kämpfen.“ Er konnte kaum noch reden.
Durch das Abfangen seines Falls saß er an ihren Körper gelehnt auf ihrem Schoß. Sie strich ihm über die Brust. Da bemerkte sie einen Schaft. Sie konnte ihn nicht vorher entdecken, weil Teile der Kleiderfetzen ihn verdeckt hatten.
Vermutlich steckte ein Dolch im Fleisch. Das Blut musste von der verletzen Lunge kommen. Sie wusste nur zu gut, dass ein Herausziehen ohne die Hilfe eines Heilers zum plötzlichen Tod führen würde, obwohl ein Dahinscheiden des Jungen mehr als wahrscheinlich war.
Er wollte wieder sprechen, doch Vanessa wollte ihm das verbieten, damit er sich nicht unnötig anstrengen sollte, doch sie brach ihr Vorhaben ab, als sie Vinc Geste sah, ihn reden zu lassen.
„Er hat uns in einen Kerker bringen lassen. Dort waren böse Menschen. Sie zogen mit einer Zange die Nägel von den Fingern. Sie schnitten Fleisch von den Körpern heraus. Schreie … Ich höre Schreie … Meine Freunde! Sie sind in Gefahr!“
Trotz seiner schweren Verletzungen und dem immer stärker fließenden Blut erhob er seine Stimme. Sie klang wie ein Hilfeschrei. Er sah mit gebrochenem Blick zu Vinc: „Hilf ihnen!“
Vinc nickte: „Ja, ich werde ihnen helfen.“
„Da war noch ein alter Mann. Er sagte, er sei ein Seher. Er sagte den Männern, die uns folterten, dass er es sei und prophezeite, dass der Tyrann sterben würde. Da haben sie ihn totgeschlagen. Er schrie noch. Er wird mich finden.“ Der Junge schwieg erschöpft.
„Wer wird ihn finden?“, fragte Vinc, der merkte, dass der Junge kaum noch fähig war, Worte herauszubringen.
„Ich weiß nicht. Doch er sagte, durch den Dolch. Genau weiß ich es nicht …“ Er brach ab, bäumte sich noch einmal auf. Blut kam in Strömen aus seinem Mund und ergoss sich über Vanessas Brust. Ihre Tränen vermischten sich mit dem roten Lebenssaft. Sie meinte bei dem Zusammentreffen beider Flüssigkeiten, es forme sich das Gesicht des Jungen, als wäre er in seiner blühenden Lebenszeit und nicht in der Eiszeit der Endlosigkeit, nicht den Qualen mehr ausgesetzt, die zum Schluss ein Antlitz schmerzverzerrt und traurig machten.
Sie wischte ihm das Blut von den Lippen und gab ihm ohne sich zu ekeln einen Kuss darauf, anschließend sagte sie: „Nimm ihn mit als Zeichen der Liebe. Dein Leben war kurz und leidend, jetzt triffst du deine Freunde wieder. Hoffentlich werdet ihr glücklich sein.“
Vinc wollte anfangs Vanessa wegen des Kusses tadeln, nicht aus Eifersucht, sondern wegen ihres Leichtsinns, denn er konnte genauso gut eine ansteckende Krankheit haben, aber er besann sich und sagte: „Sie werden solange glücklich sein, bis die dunkle Seite ihrer habhaft wird, denn dann dürfte ihre Marter weitergehen.“
„Du hast recht. Sie wollen die Geisterkinder haben“, meinte sie und sagte nach kurzer Überlegung weiter: „Diese Melodie und der Gesang, das waren die Geisterkinder.
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