Unheimliche Begegnungen (German Edition)
verwundert darüber, dass Vanessa nicht umkam, weil sie Liberia erblickte, fürchtete um den Verstand seiner Freundin. Er wagte immer noch keinen Blick nach hinten, sondern eilte zu dem Mädchen. Zögerlich trat er an den Abgrund und sah in die Tiefe. Doch sie schien unendlich zu sein. Er nahm Vanessa an die Hand und zog sie wortlos von der Untiefe weg. Dabei drehte er sich um. Er dachte nur an Vanessa und nicht mehr an die Gefahr, die von Liberia ausging.
„Das sind deine Nerven. Der Schmerz über den Tod deines Bruders lässt bei dir Hirngespinste entstehen. Diese Tiefe kann keiner überleben.“ Er sah, wie bei diesem Satz eine Träne aus Vanessa Auge perlte, die immer mehr wurden und in kleinen glitzernden Tränen überzugehen.
Vinc war es auch zum Weinen zumute, doch er schämte sich, es zu tun.
Vanessa sah ihn an. Sie wischte ihre Tränen aus den Augen, um zu Vinc eine klare Sicht zu bekommen. Sie sah ihm tief in seine braune Iris.
„Du kannst ruhig um deinen Freund weinen. Es ist keine Schande, wenn man den Schmerz durch Tränen zeigt. Auch für Jungen und Männer nicht. Tränen befreien die schmerzende Seele.“
Die wärmenden Worte Vanessas entlockten Vinc ein paar Tränen. Er fing sich gleich wieder und stellte erschrocken fest: „Wir müssten eigentlich auch tot sein.“ Er musterte das Umfeld: „Wo ist sie hin?“, fragte er.
Auch Vanessa konnte Liberia nicht entdecken. Sie sahen nur ein flimmerndes Gebilde, das ständig die Farben wechselte. Von da hörten sie die Stimme Liberias: „Dreht euch wieder um.“
Sie kamen dieser Aufforderung sofort nach. Diesmal aber setzten sie sich nicht mehr, denn sie wollten Liberia besser verstehen, die sich nun unmittelbar hinter ihnen befand. Ja, Vinc meinte sogar, ihren Atem zu spüren.
„Ich hatte vorausgesehen, dass ihr euch umdrehen würdet. Vanessa …“
„Du kennst meinen Namen? Ich habe mich dir nicht vorgestellt“, unterbrach sie Liberia verwundert.
„Ja. Auch die Namen von Vinc und Tom. Doch wir haben keine Zeit für viele Erklärungen. Jeden Moment können die schwarzen magischen Winde über uns wegsausen. Um eure Fragen vorwegzunehmen: Tom lebt tatsächlich.“
Sie musste über hellseherische Fähigkeiten verfügen und Gedanken lesen können. War das überhaupt ein Wunder? In dieser geheimnisvollen Wunderwelt Arganon?
„Vanessa, dein Bruder lebt. Du hast nicht geträumt, als du meintest, seine Stimme zu hören. In diesem Abgrund sind Wirbelwinde, die jeden tragen, der dort hinabfällt. Tom schwebt ständig auf und ab. Nur kommen die Winde nicht am Tag bis an den Rand, sondern nur des Nachts. Und das ist gut so. Sonst hätte mich Tom wohl schon gesehen und wäre tatsächlich tot.“
Sie schien unruhiger zu werden. Sie konnten es zwar nicht sehen, aber sie merkten es an ihrer Stimme, sie sonst ruhig und ausgeglichen war, bekam einen anderen Tonfall. Sie klang nicht mehr lieblich wie anfangs, sondern wurde höher. Ja, es schmerzte sogar den beiden in den Ohren.
„Ich weiß, mich in meiner Erregtheit zu hören, ist eine Zumutung für eure Ohren, aber die Sorge und das Wohl um euch lassen mein Organ in einen unangenehmen Tonfall gleiten. Daher sollte ich mich beeilen. Je mehr ich mich errege, desto greller wird meine Stimme. Sie könnte sogar bei euch zu einer Taubheit führen.“
Vinc wie auch Vanessa mussten bereits ihre Ohren zuhalten. Ihr Trommelfell schien dem Platzen nahe.
„Ich weiß, dass ihr auf die dunkle Seite sollt. Fragt mich nicht, woher ich es weiß, dass es so ist, muss euch genügen. Wenn ihr es jemals schaffen solltet, dann sucht den Kristall der Spiegelung und bringt ihn zu mir, damit ich wieder mein wahres Gesicht bekommen und jedem Wesen gegenübertreten kann, ohne es zu töten. Außerdem ist dieser Kristall in den Händen der dunklen Seite gefährlich. Wer ihn besitzt, kann jede Person spiegeln und sich in sie hineinversetzen.“
Die Stimme wurde für Vanessa und Vinc noch unerträglicher.
„Die magischen Winde kommen. Springt in die Tiefe, die Wirbelwinde werden euch auffangen.“
Trotz der Hektik wollte Vinc noch wissen: „Wer hat uns hierher gebracht? Wir waren im Nebel und …“
Sie unterbrach ihn: „Es war Ariel, der Luftgeist. Er handelte in meinem Auftrag. Er verursacht die Nebel und trägt euch hurtig an andere Orte. Aber hütet euch vor ihm. Und nun springt, bevor es zu spät ist.“
Sie liefen auf den Abgrund zu. Ihnen wurde die Stimme unerträglich. Sie fürchteten, ihr Gehör zu verlieren.
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