Unheimliche Begegnungen (German Edition)
vergeblicher Suche gab er auf und eilte ins Versteck zurück.
Vanessa lag immer noch reglos da. Vinc bemerkte, als er Tom ansah, Tränen in seinen Augen. „Sie wird doch nicht sterben?“, fragte Tom mit heiserer Stimme.
Vinc wusste nicht, was er antworten sollte. Er konnte es im Grunde nicht, denn ihm versagte auch die Sprache.
„Ich hole den Pfeil jetzt raus“, sagte er nach einigen Minuten des Schweigens.
Er erweiterte das Einschussloch auf ihrem Pulli, indem er ringsum weiter einriss, dabei wurde ihre zarte Haut sichtbar. Unter normalen Umständen hätte er sie wohl länger angesehen und sie gestreichelt, aber im Moment interessierte ihn nur der Pfeil und das Leben seiner Freundin. Trotzdem schoss ihm durch den Kopf, wenn sie sterben würde, weil er einen Fehler machte? Wenn er den Pfeil herauszog und sie dennoch verblutete? Wie groß war eigentlich die Spitze eines Arltpfeils? Sah er nur einen geringen Teil von ihr? Steckte sie tiefer als er es vermutete? War sie nahe am Herzen? Er war kein Arzt und wusste nicht, wie groß Vanessas Herz war. Aber wieder schoss ihm in den Kopf, wenn sie sterben würde, durch seine Hand, die Hand ihres Freundes. Er könnte sich ein Leben ohne sie nicht mehr vorstellen. In diesem Augenblick wusste er, wie stark seine Liebe zu ihr war. Als Vinc in diesen Gedanken weilte, sah er etwas, was ihn sofort wieder zu den Tatsachen zurückbrachte. Etwas, was ihm durch und durch ging. Die Spitze des Pfeils hatte Widerhaken.
„Ich muss ihn herausschneiden“, sagte er nach mehrmaligen Schlucken.
Tom sah ihn entgeistert an: „Du willst was?“
Vinc gab darauf keine Antwort, sondern holte aus seiner Hose ein Taschenmesser.
„Ich habe in Indianerfilmen gesehen, wie die das machen“, sagte er und klappte es auf.
„Das ist kein Film, das ist real. Du bist kein Arzt oder Indianer oder … “
„Schon gut“, unterbrach ihn Vinc. Doch dann stockte ihm der Atem: „Was ist das?“ Er sah, wie sich um die Wunde schwarze Flecken bildeten, die sehr bald auch die übrige sichtbare Haut überzogen. „Das ist Gift!“, schrie Vinc. „Die Pfeile sind vergiftet. Anders kann ich mir nicht erklären, was da passiert.“
Sie hörten Vanessa röcheln. Dann kaum noch ihren Atem. Vinc befeuchtete seinen Handrücken und hielt ihn dicht an ihren Mund. „Sie atmet kaum noch“, stellte er fest. Er fühlte ihren Puls. „Ich fühlte ihn zwar, aber nur wenig.“
Entschlossen umfasste er das Messer, doch Tom griff seinen Arm und hinderte ihn daran, Vanessa zu operieren. „Soviel weiß ich: Das Messer muss steril sein. Wir müssen Feuer machen und es darüber halten.“
Vinc sah Toms Argument ein, doch gab er zu bedenken: „Das würde die Arlts auf uns lenken. Nachts ein Feuer im Wald. Außerdem haben wir keine Zeit dafür. Aber etwas anderes haben wir. Da liegen noch die Flaschen, die du mitgebracht hast, deren Inhalt dich in einen Rausch versetzt hatte. Was kann denn besser sein als Alkohol zur Desinfektion.“
Er holte eine Flasche und goss ohne zu zögern die Flüssigkeit über die Wunde. Gerade als er das Messer zum Schneiden ansetzen wollte, geschah wiederum etwas Seltsames. Die schwarzen Flecke wurden weniger, um dann endgültig zu verschwinden.
„Mensch, das ist Medizin. Du hast die Medizin von den Arlts gesoffen. Das ist keine Flüssigkeit zum Berauschen, sondern Medizin gegen Verletzungen. Ich kann mir auch nicht vorstellen, dass die Vorgesetzten zulassen, dass die Krieger sich andauernd besaufen dürfen. Das sind Medizinflaschen.“ Vinc wiederholte vor lauter Begeisterung das Wort Medizin mehrmals.
„Kann sein, kann nicht sein. Auf alle Fälle schmeckte das Zeug scheußlich“, stellte Tom im Nachhinein würgend fest.
„Jede Medizin schmeckt scheußlich“, meinte Vinc diesmal mit einem Lächeln. Er war froh, wenigstens einen Teilerfolg erzielt zu haben. Doch das Schwierigste stand ihm noch bevor. Allein bei dem Gedanken, an Vanessas zartem Körper herum zuschneiden, bekam er eine Gänsehaut. Er spürte regelrecht Phantomschmerzen.
Doch dann wagte er es. Er überwand seine Hemmschwelle und fing sachte an zu schneiden. Sein Messer hatte er vor kurzem erst geschliffen, denn er konnte es nicht leiden, wenn er x-mal ansetzen musste, um etwas durchzutrennen. Vinc blutete das Herz, als er mit dem Messer in Vanessa Fleisch schnitt, doch er musste seinen mitfühlenden Schmerz unter Kontrolle haben, wollte er nicht mittendrin aufhören. Jetzt den Moralischen zu bekommen, wäre genau
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