Unschuldig
im Laufe des Tages über die Herstellung von Filmen gesammelt hatte, kamen ihr in den Sinn. Ein Laie, der zum ersten Mal an ein Filmset kam, wunderte sich bestimmt über die vielen Menschen, die dort anscheinend mehr oder weniger tatenlos herumstanden. Doch jeder von ihnen hatte eine klar umrissene Aufgabe, die er eigenverantwortlich ausführen musste. Alle Tätigkeiten griffen wie kleine Zahnrädchen ineinander, jeder Film war Teamwork. Also waren nicht nur Professionalität und Disziplin gefragt, sondern auch Kommunikationsbereitschaft der Einzelnen untereinander.
Paula ordnete die Notizen des Tages und wandte sich dann den ersten Szenen des Drehbuchs zu. Nach einer guten Stunde seufzte sie laut. Die Lektüre war überaus ermüdend, und die Geschichte erinnerte sie an einen Liebesfilm, den sie schon mal gesehen hatte. Sie wusste erst nicht mehr, wann und wo, aber schließlich fiel ihr ein, dass es ein Klassiker mit Meryl Streep gewesen war, den sie im Nachtprogramm verfolgt hatte. Allerdings hatte sie den Film spannender und origineller in Erinnerung als das, was sie hier in den Händen hielt. Dieses Drehbuch wirkte wie ein schaler Aufguss des Originals, irgendwie krampfhaft mit dem sogenannten Zeitgeist versehen.
Gegen eins machte Paula endlich das Licht im Wohnzimmer aus, ging ins Bad und schlüpfte dann zu Jonas unter die Decke. An seinen Rücken gekuschelt schlief sie sofort ein.
In der Nacht träumte sie, sie sei ein kleines Mädchen und hätte beim Spielen die Zeit vergessen. Ihre Mutter wartete auf sie. Als sie nach Hause lief und in die Straße einbog, in der sie wohnten, sah es genauso aus wie immer. Sie lief auf den Eingang zu, doch mit einem Mal wurde sie von Panik erfüllt. Das Haus war spurlos verschwunden. Es fehlte einfach. Keine Trümmer, keine Lücke. Nichts. Die beiden Nebenhäuser links und rechts waren nahtlos aneinandergerückt, auch der kleine Vorgarten war verschwunden. Dann plötzlich sah Paula sich am Ufer eines großen Gewässers stehen. Sie hatte zwei lange Holzstöcke in den Händen, auf die ihre Augen gespießt waren. Blind befühlte sie das Holz und merkte, wie die Stäbe sich in glitschige fette Würmer verwandelt hatten. Voller Ekel warf sie sie ins Wasser, aber statt Wasserplatschen hörte sie genüssliche Kau- und Schmatzgeräusche von unzähligen Würmern, die sich unter und neben ihr am Ufer schlängelten.
Als sie am nächsten Morgen aufwachte und wie betäubt dalag, klangen die Bilder des Traums noch in ihr nach wie ein unheimliches Echo. Mit einem Ruck setzte sie sich im Bett auf. Durch die offene Badezimmertür konnte sie Jonas sehen, der munter beim Zähneputzen im Bad auf und ab lief. Als er sah, dass sie wach war, nahm er die Bürste aus dem Mund und kam zu ihr.
»Was ist? Hast du wieder schlecht geträumt?« Er selbst träumte nie.
Als sie ihm ein paar Details erzählte, tröstete er sie. »Mein armer Liebling! Dass du im Schlaf alle Ekligkeiten wiederkäust, die du tagsüber bei deinen Mordfällen aufliest, ist kein Wunder. Du musst mehr Distanz zu deinen Fällen gewinnen, besonders zu diesem.«
»Das wird nicht funktionieren. Bei mir gibt es nur entweder ganz oder gar nicht. Erklär mir lieber, was das alles bedeuten soll.«
»Leider war ich nie gut in Traumdeutung«, sagte er grinsend. »Ich glaube an das, was meine Oma immer gesagt hat: Träume sind Schäume. Aber Tante Traude hat ihre nächtlichen Abenteuer mit ihrem altägyptischen Traumbuch gedeutet, das vom exzessiven Gebrauch schon völlig zerfleddert war. Vielleicht sollte ich dir so ein Buch schenken?«
Kampflustig richtete Paula sich auf, doch bevor sie ihm das Kissen an den Kopf werfen konnte, war Jonas bereits zurück ins Badezimmer geflüchtet und hatte die Tür hinter sich zugezogen.
9
I n der Besprechung um halb neun ging es hektisch zu. Da Zimmer 312 das größte Büro war, stand hier der lange Tisch, an dem Paulas Team zu Besprechungen zusammenkam. Eigentlich war es das Büro von Herbert Justus und Max Jahnke, dem Dienstältesten und dem Jüngsten. Manche Kollegen aßen hier auch zu Mittag, weil es in der Keithstraße keine Kantine gab. Kein Wunder also, dass der Raum immer unordentlich aussah. Dieses »Chaos des Westens«, wie der Ex-Ossi Herbert es nannte – Fünf-Minuten-Terrinen, Kaffeepulver, Würfelzucker und angebrochene Milchtüten – nahm er dennoch hin, weil er gern Gesellschaft hatte.
Paula wünschte allen einen Guten Morgen und nahm am Kopfende Platz, zwischen dem kräftigen
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