Unschuldig
reden, aber er wollte auch niemanden haben. Es wäre ihm ergangen wie den Opfern der Tsunami-Katastrophe: Eine Woche lang wurde täglich im Fernsehen über sie berichtet und die Anteilnahme war überwältigend, dann wurde das Ereignis von einer neuen Katastrophe abgelöst und geriet in Vergessenheit. Obwohl die Betroffenen noch jahrelang unter den Folgen litten. So wie seine Mutter, die seit Jahren in einer psychiatrischen Einrichtung lebte. Der er das größte Leid angetan hatte, das man einem Menschen antun kann.
Er wusste, jedes Leid, und war es auch noch so groß, ging Außenstehenden irgendwann auf die Nerven, wenn sie immer und immer wieder davon hören mussten. Wie schnell verwandelt sich Mitleid in Ablehnung und Ablehnung in Aggression. Niemand hätte ihn ertragen, wenn er monatelang von Fabian geredet hätte. Also versuchte er es erst gar nicht und blieb mit seinen Gedanken und seiner Trauer allein.
In seiner Einsamkeit freute er sich am meisten auf die Minuten vor dem Einschlafen. Dann war er in Gedanken bei Fabian. Niemand störte ihn, und er betete um einen Traum, in dem er bei ihm sein konnte.
Die Kommissarin war noch immer nicht zu Hause. Wo trieb sie sich so lange herum? Wieso kümmerte sie sich nicht um ihre Schwester und ihren Neffen? Der schlief doch bestimmt schon lange und hatte mal wieder nichts von seiner Tante gehabt.
Er würde sich viel besser um den Kleinen kümmern können als die viel beschäftigte Polizistin, die nur ihre verbissene Verbrecherjagd im Sinn hatte. Müde streckte er seine taub gewordenen Glieder. Um diese Uhrzeit fuhr die Bahn nur noch alle zwanzig Minuten, aber das genügte ihm. Er hatte noch Zeit.
21
A ls Paula das Polizeigebäude verließ, war es mal wieder nach Mitternacht. Stundenlang hatten sie dagesessen, Fakten zusammengetragen, Vermutungen angestellt, Einsätze und die Verteilung der Aufgaben diskutiert. Am frühen Abend hatte sie noch mit der Presse gesprochen. Was für die einen ein furchtbares Unglück bedeutete, war für die anderen ein gefundenes Fressen. So war es immer, und der erneute provisorische Pressetermin war gut besucht gewesen. Nach einer kurzen Beratung hatten sie beschlossen, die Öffentlichkeit noch nicht darüber zu informieren, dass dem Toten ebenfalls gewaltsam die Augäpfel entfernt worden waren und dass der Täter auch wieder Mehlwürmer in den Gesichtsöffnungen deponiert hatte. Paula war sich alles andere als sicher, ob das die richtige Entscheidung war. Sowohl die Staatsanwältin als auch Paulas Vorgesetzte hatten diese Meinung vertreten, und wenn man im Laufe der folgenden Tage zu einem anderen Beschluss kommen sollte, würden sie die Mitteilung den Sensationshungrigen später vorwerfen. Solange der Täter nicht gefasst war, müssten sie sowieso in kurzen Abständen Presse-Meetings abhalten.
Nach dem Statement hatte Paula Pizza fürs Team bestellt, aber nur ein paar Bissen von ihrer Portion gegessen. Sie fühlte sich schrecklich aufgewühlt. Es schien ihr, als würde sie selbst von einem bösen Ungeheuer belauert. Wir suchen einen planvoll arbeitenden Killer, der in seinem Medikamentenschrank K.-o.-Tropfen bunkert und eventuell zu Hause Mehlwürmer züchtet. Ein Monster, dachte sie, aber den Täter zu dämonisieren gehörte zu den dümmsten Fehlern, die ein Ermittler machen konnte.
Im Auto ließ sie das Fenster herunter und atmete tief die frische Nachtluft ein. Sie versuchte, Jonas zu erreichen, doch der schlief offenbar schon. Er hatte in den letzten Wochen so häufig Bereitschaftsdienst in der Klinik gehabt, dass er jede freie Minute nutzte, um ein wenig Schlaf zu bekommen. Wie gut, dass ich Jonas habe, dachte sie auf ihrer Fahrt nach Hause.
Auf der Suche nach einem Parkplatz spürte Paula, wie die starke Anspannung langsam von ihr abfiel und an ihre Stelle eine große Müdigkeit trat.
Sie hatte den ganzen Tag über so gut wie gar nicht an Sandra und Manuel gedacht. Erst jetzt erinnerte sie sich wieder, dass sie Gäste zu Hause hatte. Auch sie schliefen sicher längst, denn die Wohnung war dunkel und still. Leise ging sie ins Bad. Obwohl sie sich nach einer heißen Dusche sehnte, verzichtete sie darauf, um niemand zu wecken. Im Schlafzimmer kroch sie zu Jonas unter die Decke und sog seinen Geruch ein – dezentes Rasierwasser und ein Hauch von Schweiß. Zärtlich strich sie über seine Wange.
Er wurde von ihrer Berührung wach und schob seine Hand unter ihr Haar. Sanft umfasste er ihren Nacken, zog sie zu sich heran,
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