Unter allen Beeten ist Ruh
… nein, das traue ich ihm nicht zu. Puh, wenn ich so weitermache, verdächtige ich mich bald noch selbst …
Sie setzte sich abrupt auf.
Moment mal … und wenn ich tatsächlich verdächtigt werde? Schließlich bin ich es, die in der Mordnacht über die Insel gegeistert ist! Hoffentlich ist Annette Julius bald vernehmungsfähig, damit wir endlich mehr über diese verfluchte Nacht erfahren …
Pippa stand auf und tapste zum Kühlschrank. Müde und verwirrt trank sie einen Schluck Mineralwasser, dann ließ sie sich erschöpft wieder auf das Sofa fallen. Ab sofort würde sie sich von der abstrusen Idee verabschieden, diesen Fall zu lösen. Wenn sie sich selbst gegenüber ehrlich war, musste sie sich eingestehen, dass sie Angst vor der Aufklärung und ihren Konsequenzen hatte, denn Kommissar Schmidt hatte recht: Einer der netten Insulaner war ein Verbrecher. Und sie war sich nicht sicher, ob sie wirklich wissen wollte, welcher.
Sie hörte dem monotonen, meditativen Rauschen des Regens zu und schlief langsam wieder ein – traumlos.
Verdammt, wer drückt mir Eiswürfel an die Beine? Und wieso ist es plötzlich so furchtbar eng hier?
Pippa öffnete die Augen und fand sich von den Kästner-Zwergen umzingelt, die sich mit eiskalten Füßchen unter ihre Decke geschmuggelt hatten. Sie kicherten und kuschelten und tuschelten leise miteinander und sahen Pippa erwartungsvoll an. Ein harter, flacher Gegenstand unter Pippas Wange entpuppte sich als das geliebte Kistenbuch.
»Bist du wach?«, flüsterte Emil ihr ins Ohr. »Mama und Papa schlafen noch. Wir können das Buch zu Ende lesen.«
»Und wenn das Buch aus ist, fangen wir wieder von vorne an«, piepste die kleine Lotte.
»Oder wir lesen ein neues Buch«, schlug Anton vor, »vielleicht das Dschungelbuch . Mama mag das nicht vorlesen. Sie gruselt sich vor der bösen Schlange.«
»Wir singen dir das Lied von Kaa, der Schlange, vor«, bot Emil an, »dann wirst du wach.«
Bevor Pippa protestieren konnte, sangen die Kinder: »Hör auf miiiiiich, glaube miiiiiir, Augen zuuuuu, vertraue miiiiir, schlafe saaaanft, süß und feiiiiin, will dein Schuuuuutzengel seiiiiin … «
Pippa stellte neidlos fest, dass der Engelschor das hypnotische Lispeln der Schlange aus dem berühmten Zeichentrickfilm virtuos imitierte. Ihr Widerstand brach. »Schon gut, schon gut! Ihr habt mich überredet. Ab wo soll ich denn lesen?«
»Noch mal die Stelle, wo Emil dem Kassierer beweist, dass der böse Mann mit dem steifen Hut der Dieb ist«, kreischten die Kinder begeistert. »Das ist die spannendste Stelle!«
Pippa schlug das Buch auf und las vor: »Halt!, schrie Emil plötzlich und sprang in die Luft, so leicht war ihm mit einem Male geworden. Halt! Ich habe mir im Zug das Geld mit einer Stecknadel ins Jackett gesteckt. Und deshalb müssen Nadelstiche in den drei Scheinen zu sehen sein! Der Kassierer hielt das Geld gegen das Licht. Den anderen stockte der Atem. Der Dieb trat einen Schritt zurück. Der Kassierer trommelte nervös auf dem Tisch herum.«
»Der Junge hat recht!«, jubelten die Kinder im Chor.
Pippa nickte. »Genau. Der Junge hat recht, schrie der Kassierer, blaß vor Erregung. In den Scheinen sind tatsächlich Nadelstiche!«
»Und hier ist die Nadel dazu!«, riefen die Kästner-Zwerge.
»Richtig«, sagte Pippa und wollte weiterlesen, stutzte aber irritiert. Ein Gedanke spukte durch ihren Kopf, unklar und verschwommen, zu vage, als dass sie ihn hätte fassen können. Gebannt starrte sie auf die gerade gelesenen Zeilen.
»Weiter, weiter!«, rief Emil ungeduldig.
Pippa riss sich zusammen und versuchte, sich auf die nächsten Sätze zu konzentrieren. Ihr Magen flatterte nervös, und ihre Stimme bebte, als sie langsam fortfuhr: »Und hier ist die Nadel dazu, sagte Emil und legte die Stecknadel stolz auf den Tisch. Gestochen habe ich mich auch.«
»Der arme Emil. Er musste sogar weinen, weil es so doll geblutet hat«, wisperte Luise.
Nadel … gestochen … Blut …
»Nadel«, sagte Pippa laut.
Der undeutliche Gedanke nahm Gestalt an und erfüllte sie mit Grauen.
Sie sprang wie elektrisiert aus dem Bett.
Pippa hetzte die Dorfstraße entlang, verfolgt von den vergnügt quietschenden Kindern der Kästners, die vor Begeisterung über dieses wunderbare neue Spiel völlig aus dem Häuschen waren. Wie Pippa rannten sie barfuß und im Schlafanzug über die Insel. Keine einzige der großen Pfützen, die der nächtliche Regen hinterlassen hatte, war vor ihnen
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