Unter dem Baum des Vergessens -: Ein Leben in Afrika (German Edition)
Besuch im November 2004 beginnt gerade die kurze Regenzeit, und schieferfarbene Wolken hängen tief über dem Great Rift Valley. Die Erde der grünend blassgelben Savanne erscheint feucht und schwer, der An- und Abflug Tausender Flamingos lässt den Nakuru-See rosarot leuchten. Der Krater des Menengai oberhalb der Stadt wirkt friedfertig bemoost, gar nicht wie der dämonenbetanzte Kia Ngoma der Legende. Nakuru, so scheint mir, ist weniger ein Ort roten Staubs als vielmehr blassvioletter Sättigung.
Bei der Suche nach allen Farben Nakurus stoße ich hier und da auf Spuren britischer Besiedlung – das klotzige War Memorial Hospital, ein altes, verfallenes Pub im Pseudo-Tudorstil, Wasserrinnen, die aussehen, als seien sie bereits von römischen Eroberern verlegt worden –, aber Lavender’s Corner kann ich nirgends finden. Also bleibt mir das Haus so in Erinnerung, wie Mum es beschrieben hat: »Ein schöner Bungalow mit einem Dach aus Holzschindeln, ein riesiger Pfefferbaum am Ende des Gartens und jede Menge Koppeln für die Pferde.«
Und so wie Lavender’s Corner mir im Gedächtnis bleibt, perfekt und irgendwie unschuldig, stelle ich mir auch meine Mutter vor, die damals in diesem wunderbaren Haus gelebt hat. Sie ist zwanzig und außerordentlich schön; weder die Zeit noch die Elemente haben ihre Spuren in ihrem Gesicht hinterlassen. Und in dieser Phase ihres Lebens arbeitet sie nicht, nicht im herkömmlichen Sinn des Wortes. Und sie hat den Schmerz noch nicht kennengelernt, jedenfalls nicht den, der über die relativ harmlosen Tragödien einer kolonialen Kindheit hinausging. In vielerlei Hinsicht ist diese Person mir unbekannt. Sie ist die Mutter von irgendjemandem, nicht meine gebrochene, grandiose, grimmige Mutter.
Meine Eltern zogen kurz nach ihrer Hochzeit in Lavender’s Corner ein. Mit ihnen kamen Mums geliebte Violet, eine Katze namens Felix, eine deutsche Schäferhündin namens Suzy (»einer der besten Hunde, die wir je hatten«, sagt Dad) und ein paar Polo-Ponys (»Schrecklich misshandelte Kreaturen, die niemand mehr reiten wollte«, sagt Mum). Außerdem mehrere Koffer voller modischer Stöckelschuhe (»wahnsinnig unpraktisch, denen hab ich meine Ballenzehen zu verdanken, schau!«), Koffer und Holzkisten gefüllt mit irischem Leinen, ägyptischen Baumwollstoffen, aufgerollter Leinwand, Farbtöpfen, Porzellan, ein paar Jagdstichen, Silbergegenständen, einem Bronzeguss des Duke of Wellington auf seinem Lieblingspferd und einem Satz Le-Creuset-Töpfe und Pfannen.
»Stell dir vor«, sagt Mum, »diese Le-Creuset-Töpfe haben die vielen Jahre überlebt. Manchmal geht ein Besucher die Treppe runter in den Garten, sieht sie in meiner Küche hängen und ruft: ›Oh, deine schönen orangeroten Töpfe! Wie hübsch. Da muss ich mal schnell ein Foto machen!‹« Dieser Besucher weiß indes nicht, dass er mit den Le-Creuset-Töpfen auch die Schatten all der Dinge fotografiert, die es nicht bis hier geschafft haben. Jedes Mal, wenn Mum Segel setzte oder auf eine andere Farm oder in ein anderes Land zog, musste sie abschätzen, was in die wenigen Kisten passte, was auf der Ladefläche eines Landrover unterzubringen war, mit welchen Dingen man es durch die Grenzkontrollen eines unberechenbaren afrikanischen Landes schaffte. Weil Mum immer mit einem großen Sortiment an Haustieren und einer umfangreichen Bibliothek umgezogen ist, haben nur wenige andere kostbare Gegenstände die vielen Ortswechsel überlebt. »Verloren, gestohlen, zerbrochen, kaputtgegangen, zurückgelassen«, sagt sie.
Nach ihrer Rückkehr aus England war Mum von einer Anwaltskanzlei in Eldoret als Sekretärin eingestellt worden. »Doris Elwell, die andere Sekretärin, konnte so schnell tippen, dass die Maschine Funken sprühte«, sagt Mum. »Na ja, sie war als Tippse bei den Nürnberger Prozessen angestellt gewesen, ein unfairer Vorteil. Und dann kam ich: klipp-klipp-Pause, klipp-klipp-Pause. Und nach jeder dritten Zeile – knarz-knarz-knarz – der Bogen wieder hochgekurbelt, literweise Tipp-ex auf die vielen Schreibfehler geschmiert. Bei Shaw & Caruthers atmeten sie alle auf, als ich mich mit Tim verlobte, weil es damals nicht üblich war, dass eine Frau nach der Heirat in ihrem Beruf weiterarbeitete.«
In Lavender’s Corner – frisch verheiratet und fröhlich arbeitslos – beschloss Mum, sich ganz auf die Kunst zu konzentrieren. Sie stellte ihre Staffelei auf die Veranda und malte. »Was ich vor Augen hatte«, sagt Mum, »das Rift Valley in
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