Unter dem Safranmond
schüchternen Vierjährigen, war es ihr leicht gefallen, ihn zu nehmen, wie er war, was er war: das Kind Geralds und seiner zwei Jahre zuvor verstorbenen Frau Emma. Aber Maya, ihr Kind, sah aus wie Geralds Mutter, hatte den Greenwood’schen Hang zu Eigenwilligkeit geerbt und Geralds Verstand und Wissbegierde. Es schien gerade so, als hätte Marthas Leib nur als Gefäß gedient, ohne dem Wesen, das darin heranwuchs, etwas von sich mitgeben zu können. Befremdet hatte sie zugesehen, wie Maya mit großen Augen und ausgebreiteten Armen losgestürmt war, voll strahlender Neugierde auf diese Welt, kaum dass sie richtig laufen konnte, schneller als ihre Beinchen sie trugen und schneller, als die Nanny hinter ihr her sein konnte. Martha dankte dem Herrn oft, dieses Kind überhaupt groß bekommen zu haben, ohne dass es sich vorher auf der Treppe oder auf einem der Bäume im Garten das Genick gebrochen hatte. Nicht so wie der Sohn, dem sie ein Jahr nach der Hochzeit das Leben geschenkt hatte und der zu schwach gewesen war, um das erste Vierteljahr zu überstehen.
Es gab Momente, wenn Maya besonders verschlossen und in sich gekehrt wirkte, in denen Martha Greenwood sich schuldig fühlte, ihrer Tochter so früh so harte Zügel angelegt zu haben. Aber Martha wusste auch, dass dies keine Welt war, in der eine erwachsene Frau einfach losstürmen und leben konnte, wie es ihr gefiel. Und die Gefahr, dass Maya sich mit ihrer impulsiven Art, ihrem Hunger nach Wissen und Eindrücken auf ihrem Lebensweg doch den Hals brach, war noch immer nicht gebannt. Martha Greenwood war in Sorge um diese Fremde, die ihre Tochter war. Eine Sorge, die sie Maya gegenüber nie aussprach, weil sie wusste, dass man mit zwanzig Jahren anders über das Leben dachte als mit zweiundvierzig. Und als sie spürte, dass die Schluchzer ihrer Tochter abebbten, schob sie sie sachte von sich, strich ihr über das nasse Gesicht und sagte nur: »Morgen sieht alles schon ganz anders aus, ja?« Maya nickte kraftlos und nahm das Taschentuch entgegen, das ihre Mutter ihr reichte, als diese sich erhob.
»Nicht morgen«, flüsterte Maya aus enger, raugeweinter Kehle, als die Tür sich bereits wieder hinter ihrer Mutter geschlossen hatte, »in sechs Wochen. Wenn ich einundzwanzig bin und eure Einwilligung nicht mehr brauche.«
Doch die Zeiger der Schicksalsuhr sollten für Maya schneller vorwärtsrücken, als sie es an diesem Sonntag vermuten konnte. Denn neun Tage später, am 28. März, erklärte Großbritannien in Allianz mit Frankreich Russland den Krieg. Und zwei Tage darauf traf in Black Hall der schriftliche Befehl ein, Assistenzarzt Jonathan Alan Greenwood, geb. 17. Juni 1826 , habe sich innerhalb der nächsten vier Wochen im Hauptquartier des 1. Bataillons der Rifle Brigade in Walmer, Kent zu melden.
11
»Ausgeschlossen!« Jonathan hob abwehrend die Hände, lehnte sich in seinem Stuhl zurück und presste die Handflächen gegen die gebogene Tischkante, als müsste er einen Schutzwall zwischen sich und Ralph errichten. »Briefe an meinen Eltern vorbeizuschmuggeln ist eine Sache, aber was du da jetzt von mir verlangst …« Kopfschüttelnd nahm er seine Tasse und trank einen Schluck Tee.
Ralph senkte den Blick auf seine eigene Tasse, die er am Henkel im Halbkreis auf dem Unterteller hin- und herdrehte »Wie geht es ihr?«, fragte er leise, mit einem sachten Schwingen in der Stimme. Jonathan schwieg und starrte durch die Tüllgardine hinaus in den Regenschauer, der gerade auf die Straße niederprasselte und an der Außenseite der Scheibe herabperlte. Der April war kaum wärmer als der März, und nur selten riss die Wolkendecke auf, um die Turmspitzen Oxfords in Sonnenlicht zu tauchen.
Über drei Wochen war es nun her, dass Mr. und Mrs. Greenwood an jenem Sonntag Ralphs Antrag abgelehnt hatten und dass dieser niedergeschlagen aus Oxford abgereist war, zurück nach Gloucestershire. Drei Wochen, in denen in Black Hall wieder so etwas wie Normalität eingekehrt war, sah man einmal davon ab, dass zwischen Maya und Angelina nach wie vor unversöhnliches Schweigen herrschte. Was aber im Tagesablauf des Hauses nicht weiter ins Gewicht fiel, da Maya sich kaum mehr aus ihrem Zimmer bewegte, Mahlzeiten ausließ oder lustlos darin herumstocherte. Sie verbrachte ganze Tage damit, aus dem Fenster zu starren, unklar, was sie dort zu sehen vermochte, und meistens ein Buch in der Hand, in dem sie nie las.
»Es geht ihr nicht gut«, sagte Jonathan schließlich und begann
Weitere Kostenlose Bücher