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Unter der Haut (German Edition)

Unter der Haut (German Edition)

Titel: Unter der Haut (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Doris Lessing
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Konversation, wie sie meine Mutter so perfekt beherrschte. Ich plauderte, und sie hörten zu und sahen mit ernsten Gesichtern zu mir herunter. Nach einer Weile sagte einer der beiden freundlich: »Siehst du, ich bin sehr alt, und du bist sehr jung.«
    Nichts von Bedeutung, sollte man meinen. Ich war denkbar sanft zurechtgewiesen worden, mit einem Lächeln, das mir verzieh. Aber das war nicht der Punkt. Irgendetwas an der Situation, an den alten Männern, den Worten, »ging mir zu Herzen«. So viel war mir klar. Aber was? Was war geschehen? Seit Jahren hatte niemand etwas so Beeindruckendes zu mir gesagt, mich so zum Nachdenken gebracht, mich gezwungen, mir die Worte, die Situation, die alten Männer zu vergegenwärtigen, als ob in ihnen eine ursprüngliche Qualität verborgen läge, die mir als Bezugspunkt zu dienen hatte. Dabei war gar nichts gesagt worden, wenn man nur den einfachen Satz nähme. Und doch war alles gesagt worden. Viel später, als ich noch einmal etwas Ähnliches erlebte, und dann noch einmal und noch einmal, begriff ich, dass es ganz gleich ist, welche Worte ausgesprochen werden, wenn man nur bereit ist, wenn man unbewusst, ohne selbst etwas davon zu wissen, darauf wartet, etwas zu hören, sich von etwas berühren zu lassen, weil man es braucht. Dann können anscheinend so leere Worte wie »Schönes Wetter heute« die gleiche Wirkung haben. Aber es brauchte Zeit, bis sich dieses kleine Erlebnis in meinem Kopf als Paradigma einnisten konnte, und so lange befand ich mich in innerer Konfusion und heftigem Aufruhr.
    Ich fuhr wieder heim, in dieselbe Situation, die sich inzwischen allerdings noch verschlechtert hatte.
    Mein Vater ging seltener in die Felder. Früher war er den ganzen Vormittag und den ganzen Nachmittag dort draußen gewesen, um die Arbeiter zu beaufsichtigen, und hatte nur nach dem Mittagessen eine halbe Stunde geschlafen. Oder er hatte den ganzen Tag im Busch nach Gold gesucht. Jetzt schlief er nach dem Mittagessen ein paar Stunden und Mutter ebenfalls. Ich schlich auf Zehenspitzen in ihr Zimmer und sah ihn daliegen, auf dem Rücken wie immer, das Holzbein steif abstehend, die Hand am Seitenteil des Bettes festgekrallt, als fürchtete er, von einer Welle oder einem Windstoß davongetragen zu werden. Sie lag zusammengekrümmt da, unendlichen Kummer im Gesicht. Beide hatten neben sich auf dem Nachtschrank ein Glas Wasser, in dem ihre Zahnprothesen schwammen. Diese schlecht sitzenden Zähne machten nichts als Ärger.
    Beide Elternteile wurden langsam taub.
    »Ich will nicht, ich will nicht!«
    Meine Augen galten immer noch als schlecht, und obwohl ich immerzu selber las, fing mein Vater an, uns beiden abends nach den Nachrichten vorzulesen. Er suchte nur Bücher über den Krieg und die Schützengräben aus. Wenn er zu einer besonders schrecklichen Passage kam, ließ er das Buch sinken, und in seinem Gesicht kämpfte Zorn mit Trauer.
    Auch mit mir ging es bergab.
    Wenn ich in den Busch zog, überkam mich eine seltsame Erschöpfung, und ich sank keine hundert Meter vom Haus entfernt unter einem Baum nieder. Wenn ich mit meinem Vater in die Felder ging, suchte ich mir einen schattigen Platz und las. Aber ich las ein ums andere Mal dieselben Bücher: Ich las, um mich besser meinen Tagträumen hingeben zu können. Langsam, aber sicher ging ich unter.
    Ich träumte von der Zukunft in ihren glanzvollen Variationen. Als Tänzerin, als Sängerin, als Modeschöpferin, als Nachtclubbesitzerin in verrufenen Städten. Am häufigsten lebte ich in der Pariser Boheme oder durchstreifte die Küstengebiete des Mittelmeeres. Das war, lange bevor junge Leute überhaupt auf den Gedanken kamen, dass sie jederzeit überall hinfahren könnten. Von Marseille oder Nizza zu träumen war … Dafür gibt es heute keinen Vergleich mehr. Timbuktu oder Chimborazo sind nur eine Flugreise entfernt. Damals gab es noch unberührte Orte auf der Welt.
    Meine Mutter wusste nichts von meinen Nachtclub-, Kleider- und Liebesfantasien, doch wenn sie mich eine Melodie aus dem Radio singen hörte oder wenn ich zufällig ein Bild malte oder allein im Schlafzimmer tanzte und sie mich dabei erwischte, verkündete sie immer sofort, dass ich, »sobald wir die Farm los waren«, ordentlichen Unterricht haben müsste, und dann würde ich selbstverständlich eine große Karriere machen.
    Wir sind bei
Martha Quest
angekommen, was ungefähr zu dieser Zeit einsetzt – und damit bei der Notwendigkeit für eine Erklärung. Leser stellen sich

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