Unter der Haut (German Edition)
sich hochzuziehen und den Kopf so weit zu heben, dass er über den Rand des Kinderwagens hinausgucken konnte. Es war offenkundig, dass er bald ein großes Kinderbett brauchte, eines mit Gitterstäben. Er wirkte hungrig. Ich wurde mit jedem Tag fetter und war todunglücklich. Die Milch reichte gerade. Zwischen den Mahlzeiten quälte ich mich mit der Frage, ob meine Brüste genug Milch produzierten, denn sie waren nach jedem Stillen vollkommen leer getrunken. Das Kind war ein paar Stunden zufrieden und schrie dann erneut. Aber die Regeln besagten, dass nur alle vier Stunden gefüttert werden durfte. Ich saß da in höchster Not und ließ »das Baby schreien« wie vorgeschrieben, bis zu der Sekunde, in der die Uhr anzeigte, dass ich ihn hochnehmen und stillen durfte. Heute weiß ich, dass er ein Kind war, das nach Bedarf hätte gestillt werden müssen, nicht zuletzt deshalb, weil ich dann auch genug Milch produziert hätte. Ich fing an, gegen die Vorschriften zu handeln, indem ich das Kind nachmittags hochnahm und es zu trösten versuchte, indem ich mit ihm schmuste und redete und hoffte, dass sich meine bis dahin leeren Brüste durch die körperliche Nähe füllen würden. Ich weiß noch, wie ich auf der Veranda stand und ein Kind umschlang, das scheinbar in meinen Armen stehen wollte, das Fäustchen im Mund, ein Inbegriff des Hungers; ich weinte ununterbrochen und fragte es: »Was soll ich bloß tun? Was soll ich bloß mit dir machen?« – denn er war so schwer, dass ich schon erschöpft war, wenn ich ihn nur auf dem Arm herumtrug. Dabei war ich eine kräftige junge Frau, und er war nur ein Baby.
Kurz gesagt, er war ein hyperaktives Baby und später ein hyperaktives Kind, das Wort war damals allerdings noch nicht in Gebrauch. Darüber bin ich froh. Wahrscheinlich hätte man ihn mit Medikamenten ruhig gestellt.
Inzwischen steckten die stolzen Eltern bis oben hin voller Theorien, wie üblich beim ersten Kind. Frank hatte in irgendeinem Buch gelesen, dass man Kinder nicht verweichlichen solle, weil sie später gegen Erkältungen gefeit sein würden, wenn sie früh lernten, Kälte auszuhalten. Zur Abhärtung wurde das Baby mit nur einem Hemdchen, einem dünnen Jäckchen und einer Windel bekleidet nach draußen auf die Veranda gestellt. Das schien ihm nichts auszumachen, obwohl es auf den Winter zuging und die Luft kälter wurde. Er fing weiterhin erst an zu schreien, wenn eine bestimmte Zeit seit der letzten Mahlzeit vergangen war. Erstgeborene müssen einiges mitmachen können. So war ich kürzlich dabei, als ein Kind von neun Monaten mit Käsetoast gefüttert wurde, weil die Eltern fanden, dass dem Baby ihr Speiseplan zu langweilig sein müsste.
Ich war fertig vor Sorgen um das Kind, vor Widerwillen über meine Fettleibigkeit und wegen der ständigen Besuche meiner Mutter, die behauptete, dass John falsch behandelt werde, und sich nicht davon beeindrucken ließ, dass er stetig zunahm, was doch für die Experten der Beweis für die Richtigkeit ihrer Methode war. Ich sagte, ich wolle zum Fläschchen übergehen. Sie fand mich verantwortungslos. Meine Freundin Ivy hatte, von dem elenden Stundenplan völlig erschöpft, ihr Kind schon aufs Fläschchen umgestellt, und es war alles in bester Ordnung.
Es gibt keine Methode, die wirkungsvoller ist, jungen Frauen Angst einzuflößen, ihnen das Gefühl von Unzulänglichkeit, Ineffizienz und Mangelhaftigkeit zu vermitteln und sie um ihre Milchproduktion zu bringen sowie – selbstredend – um alle Freude am Umgang mit dem kleinen Kind. Aber genau das ist beabsichtigt, da bin ich sicher.
Manchmal ging ich vormittags zu Ivy, und wir badeten unsere Kinder gemeinsam. Ihr vertraute ich, wo ich den Experten nicht traute. Wir standen Seite an Seite an dem langen Tisch, der als Wickelkommode diente. Ihr Baby lag vor ihr, meins vor mir. Babys können bei der Geburt mager sein, faltig, dürr, dunkelrot oder manchmal über und über behaart; sie sind schlicht gesagt unfertig. Wir wussten, was das Problem war: Babys kommen zu früh auf die Welt. Der Beweis dafür ist, dass sie erst mit ungefähr zwei Monaten zu den vollkommenen kleinen Wesen werden, als die sie offensichtlich von Anfang an gedacht sind. Ihr kleines Mädchen war mollig und hübsch, hatte Grübchen, speichelte Bläschen und wedelte mit weichen Ärmchen. John war lang und dünn, mit klugen Augen und nimmerstillen Armen und Beinen. Man musste ihn mit einer Hand festhalten, damit er nicht vom Tisch rollte. Er boxte in die
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