Unter der Haut (German Edition)
den Armen seiner Amme, seiner Nana, seiner zweiten Mutter. Sein Ururgroßvater, ein geborener Levy, hatte das Familienvermögen erwirtschaftet. Er war einer jener Händler des neunzehnten Jahrhunderts, die Vermögen gewannen und wieder verloren, einige davon in Russland. Er baute Schiffe und Eisenbahnen und versorgte ganz Russland mit Hufnägeln. Lenin persönlich lobte die Familie als ein Beispiel für sinnvoll und nutzbringend eingesetztes Kapital. Seine zahlreichen und wohlgenährten Kinder hatten haufenweise Kleider, Pelze und Juwelen, wohnten in riesigen Häusern in Berlin und lebten größtenteils von dem, was er hinterlassen hatte. Ein Foto von ihnen erinnert an die Frühzeit der Forsytes oder an die Buddenbrooks. Einer von ihnen, Gottfrieds Vater, war – wie der Begründer des Vermögens – Industrieller und Spekulant, aber sein Herz gehörte seiner Bibliothek. Er heiratete die Tochter einer deutschrussischen Familie, die in seiner Firma in Moskau arbeitete – das heißt, sie war ihrer Zeit voraus. Das Haus am Nicolassee in Berlin war groß und hübsch, aber nichts im Vergleich zu den palastähnlichen Gebäuden der zweiten Generation. Die Familie und ihre zahlreichen Gäste sprachen Russisch, Deutsch und Französisch. Gottfried beschrieb das Eheleben der beiden folgendermaßen: »Sie war viel unterwegs und gab zu Hause Gesellschaften, aber er saß in der Bibliothek und las Geschichtsbücher.« Die zwei Kinder, Irene und Gottfried, waren reiche junge Leute, und sie erwarteten, auch weiterhin ein Leben in Reichtum zu führen, denn der Haushalt richtete sich nach der Mutter, die entschied, dass Hitler ein vulgärer Emporkömmling sei und man ihn gar nicht erst beachten solle. Gottfried studierte an der Universität Jura. Dann änderten sich plötzlich die Kategorien, nach denen junge Männer im Rahmen der Nürnberger Gesetze als wehrtauglich galten: Gottfried, der nur zum Teil jüdische Vorfahren hatte, war befreit gewesen, doch nun galt er als Vierteljude und wurde aufgefordert, für Hitler in den Kampf zu ziehen. Die Familie zählte zu den assimilierten Familien, und niemand empfand sich als jüdisch. Gottfried sagte, dass Hitler ihn zum Juden gemacht habe: Es war eine Frage der Ehre. Ich glaube, 1937 kam er als Flüchtling nach London. Er hatte nur wenig Geld, kaum genug, um sich etwas zu essen zu kaufen. Sonntags wurde er immer von reichen Geschäftsfreunden der Lessings zum Mittagessen in ein stattliches Haus in der Nähe der Park Lane eingeladen. Er bekam dünne Scheiben dunkelbraunen Rindfleischs vorgesetzt, eine Scheibe dunklen, glibberigen Yorkshirepudding, so viele Kartoffeln, wie er essen konnte, zerkochten Kohl, ein kleines Stück Obstkuchen und ein Bröckchen harten Käse. Er ging regelmäßig hin, denn er war hungrig. London, meinte er gedehnt, sei vielleicht für die Leute angenehm, die Geld hätten. Der, der das sagte, war Kommunist, aber die Nachteile der Armut hatte er erst kennengelernt, als er sich plötzlich in einem winzigen Zimmer in London wiedergefunden hatte.
In der Zwischenzeit war Folgendes passiert: Die Berliner Lessings hatten mithilfe des Au-pair-Systems zur Bildung ihrer Tochter Irene beigetragen. Eines der Mädchen, die für einige Zeit in dem Berliner Haushalt lebten, war Margaret Morgan, die Tochter eines Selfmade-Millionärs aus Wales. Ein anderes Au-pair-Mädchen kam aus Johannesburg und entstammte ebenfalls einer Millionärsfamilie – ihr Vater war ein Jude aus dem Baltikum, der sein Vermögen in der Frühzeit Johannesburgs mit Bauholz und Grundstücken gemacht hatte. Seine Tochter hatte Brüder; und der älteste Schneir-Sohn verliebte sich in das schöne walisische Mädchen. Er war überaus intelligent, belesen und gut aussehend, aber er war melancholisch – jedenfalls wurde er, zu einer Zeit, als man noch nicht so selbstverständlich mit Begriffen wie schizophren oder manisch-depressiv operierte, so beschrieben. Maggie heiratete ihn und versuchte, ihn von seinen Dämonen zu befreien, scheiterte jedoch, und er stürzte sich auf der Rückreise nach Südafrika vom Schiff ins Meer. Es war ganz natürlich für sie, dass sie sich mit Gottfried in Verbindung setzte, den sie im Haus seiner Familie kennengelernt hatte. Sie war unglücklich, und sie war eine sehr junge Witwe. Er war unglücklich und einsam. Der Schneir-Sohn hatte aus Margaret eine Kommunistin gemacht. Und sie machte aus Gottfried einen Kommunisten.
Ich brauchte Jahre, um etwas ganz Offensichtliches zu
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