Unter der Haut (German Edition)
sie in der Wildnis an Entbehrungen durchmachten, lautete: Gehörten sie noch dem Mittelstand an, waren sie noch »nette Leute«?
Aber so war es. Auf ähnliche Weise war meine Mutter unglücklich, weil ihre unmittelbaren Nachbarn keine wohlanständigen Engländer aus dem Mittelstand waren. Wieso hat mein Vater, der ihre Vorlieben doch zumindest gekannt haben muss, sich eine Gegend ausgesucht, wo alle »netten Leute« meilenweit entfernt wohnten, am anderen Ende des Distrikts? Ist es vorstellbar, dass er nie wirklich begriffen hat, wie wichtig ihr das war? Vielleicht hatte seine Kraft auch nur dazu gereicht, das Land zu finden, und dann musste er aus dem Nichts eine Farm aufbauen und in die Landwirtschaft einsteigen, wie er sich das nicht vorgestellt hatte. Er hatte immer Farmer werden wollen, hatte als Muster aber die englische Landwirtschaft im Kopf, wie er sie als Junge erlebt hatte.
Beide glaubten jahrelang, dass eine glückliche Wendung ihnen Erfolg bescheren würde. Meine Mutter hat vielleicht nicht sofort erkannt, dass ihr Mann durch seine Behinderung nicht in der Lage sein würde, den Busch zu beherrschen, und dass sie nie zu dem Wohlstand kommen würden, den die Empire Exhibition verheißen hatte, aber sie sah deutlich, dass die förmlichen Einladungen zum Abendessen, die Konzertabende, die Picknickausflüge der Vergangenheit angehörten. Das muss sie zutiefst getroffen haben. Als sie nach Persien gegangen waren, hatte sie alles mitgenommen, was für ein bürgerliches Leben notwendig war. Auch nach Afrika brachte sie Gesellschaftskleider mit, in denen sie Besuche machen und Gäste empfangen konnte, Visitenkarten, Handschuhe, Schals, Hüte und Federfächer. Ihre Abendkleider waren um einiges eleganter als alles, was man damals zu einer Einladung im Government House hätte tragen können. Sie glaubte wahrscheinlich, sie würde dort zu Gast sein. Sie hatte sich zwar ihrem Vater widersetzt, indem sie sich für den niederen Beruf der Krankenschwester entschieden hatte, aber sie hatte nie die Absicht gehabt, den gesellschaftlichen Status der Familie aufzugeben. Ihre Kinder sollten ihre ehrgeizigen Wünsche erfüllen und es weiter bringen als sie. Deshalb stellte sie ihre Ambitionen im ersten Jahr – nach einem Blick auf ihre Lebensumstände und ihre Nachbarn – bloß vorläufig zurück. Die Farm würde bald Geld abwerfen, und dann könnte sie nach England reisen, ihre Kinder auf gute Schulen schicken und mit dem wahren Leben beginnen.
Unterdessen hätte sie die Dinge um sich herum im Busch und auf der Farm nicht tüchtiger, einfallsreicher und energischer in die Hand nehmen können.
Und damit komme ich zu der größten Schwierigkeit, die sich mir beim Verfassen dieses Buches stellt: Wie sind Kinderzeit und Erwachsenenzeit in Einklang zu bringen? In einer bestimmten Phase meines Lebens – als ich schon in England war und mithilfe disziplinierter Gedächtnisarbeit versuchte, Klarheit in mein Leben zu bringen –, da entdeckte ich, dass mir eine ganze Zeitspanne abhandengekommen war. Es schien eine Lücke zu geben, ein schwarzes Loch, das Jahre, viele Jahre verschluckt hatte. Dabei sind alle äußeren Ereignisse bekannt. Im Januar 1925 wohnte die Familie noch in Lilfordia. Zwischen Januar und Juni 1927 kam ich zu Mrs. Scott und hatte auch schon ein ganzes Trimester auf der Schule in Rumbavu Park hinter mich gebracht. Demnach mussten all diese verschwommenen, scheinbar endlosen Erinnerungen in ein Jahr und neun Monate gepresst werden. Unmöglich. Ich gab einfach auf, musste aber später dazu zurückkehren – mehrmals … und einsehen, dass zwischen der Zeit, als ich den mit Wasser vermischten Lehm stampfte, mit dem unser Haus verputzt werden sollte, und meinem Schulanfang weniger als zwei Jahre lagen. Und selbst heute kann ich es immer noch nicht fassen, es kann nicht sein. Es war aber so. Zwischen Januar 1925 und September 1926 trugen sich die folgenden Dinge zu:
Alle, sämtliche Familienmitglieder, wurden zweimal schwer malariakrank. Das neue Farmland wurde gerodet und entstumpft, die Farm mit allem Notwendigen ausgestattet, das Haus gebaut, und wir zogen ein. Biddy O’Halloran verließ uns, worüber beide Seiten sehr froh waren. Meine Mutter erlitt einen Zusammenbruch und musste monatelang das Bett hüten. Mrs. Mitchell und ihr brutaler zwölfjähriger Sohn kamen und verließen uns wieder. Ich lernte lesen und zog triumphierend in die Welt der gedruckten Informationen auf Zigarettenpackungen und
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