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Unter der Haut (German Edition)

Unter der Haut (German Edition)

Titel: Unter der Haut (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Doris Lessing
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müssen wir ein paarmal die Woche mit einem einachsigen Holzkarren den Berg heraufholen, und Licht müssen wir mit Öllampen machen! Was Du wohl zu unserem Haus sagen würdest! Aber es ist natürlich nur ein Provisorium. Wir bauen dieses Jahr Tabak an, und daran kann man recht gut verdienen!«
    Sie stand stirnrunzelnd vor diesem schwierigen Kind, das auf dem Bett hockte, das Gesicht tränenverschmiert, in den Augen ein inständiges Flehen. Die Mutter war unsicher. Während der kleine Junge, das gute Kind, klaglos nebenan schlief, sah dieses Kind aus, als würde es gefoltert. Aber ihr Ton war energisch, als sie fragte: »Was
soll
denn dieser Blödsinn?« Damit schob sie das Kind mit einer Hand zurück auf das Bett, während sie ihr mit der andern die Decke überwarf. »Wenn du so herumtobst, wird dir bloß heiß.«
    »Aber ich will aufstehen, kann ich nicht aufstehen?«
    »Nein. Du bist noch keine Viertelstunde im Bett.« Und damit marschierte sie hinaus.
    »Immer … und ewig …« Das Kind lief mit Jesus und seinen Jüngern über eine staubige Landstraße. Es war nicht die Piste am Fuß des Hügels, wo der Staub, weich und rot, dichte Verwehungen bildete, in denen die Spuren von Käfern oder Antilopen oder Tausendfüßlern bei leichtem Wind langsam verwischten. Es war eine steinige, gelbliche Straße in – na ja, in Palästina, denn dort lebte Jesus schließlich, aber eigentlich war die holperige, trockene Straße in Persien. Der Geruch, den sie jetzt in der Nase hatte, war nicht aus Afrika, sondern aus diesem anderen Land, wo das Sonnenlicht alt roch, nach Geschichten aus uralter Zeit, wo Chosrau mit seinem Heer über eine Felswand marschierte, aber das war vor Jesus, vor Tausenden von Jahren, und dann wanderte Jesus mit Männern mit gestreiften Kopftüchern über eine staubige Straße, wo sie sich ihre nackten Zehen an großen, heißen Steinen stießen, und Jesus sagte: Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben … Was hatte er damit gemeint, was hatten sie gemeint, vor so vielen Hundert Jahren …? Sie würde nie erwachsen werden, niemals, es dauerte ja noch so lange bis zum Ende des Tages und zum Zubettgehen, so lange, die Zeit war lang, lang … Eine lange Zeit war noch keine Ewigkeit, die Ewigkeit war länger, ohne Ende,
sie ging nie zu Ende.
Von dem Bett nebenan, unter dem zusammengeknoteten Moskitonetz hervor, drang ein leises Klappern herüber. Die Katze träumte. Sie machte das komische Geräusch mit den Zähnen. Träumte sie, dass sie auf der Jagd war? Wie die Hunde, die ausgestreckt dalagen und vor Aufregung jaulten und kläfften, weil sie im Traum eine Antilope oder ein Kaninchen jagten. Wo war Lion? Wo war Tiger? Sie schliefen im Schatten unter der Veranda. Harry schlief nebenan, das gute Baby. Daddy schlief nach dem Essen ein paar Minuten in seinem Liegestuhl. Der Hausboy zählte immer noch schläfrig mit seiner Axt die Stunden. Und Mami schrieb an Tante Daisy in England, von der ich oft Post erhielt und die mir Geschenke schickte und Bücher über Jesus, weil sie meine Patentante war. Sie war es auch, die mir die Geschichten geschickt hatte, in denen Jesus mit den Männern mit gestreiften Kopftüchern durch den gelben Wüstensand lief … Vor Hunderten von Jahren, Aberhunderten.
    Die Empörung war verebbt, der ganze Körper versank nun in Melancholie. Schweiß rann ihr aus den Achselhöhlen. Ihre Haare waren feucht. Sie fasste sich an die tropfnassen Wangen. Sie sprang auf, bremste aber noch auf dem Weg zum anderen Bett die stürmische Bewegung ab und schmiegte sich verstohlen um die kleine graue Katze, die einen Protestlaut ausstieß: Lass mich schlafen. Aber das Kind streichelt und streichelt, legt ihr die Wange an die Flanke, die Katze schnurrt, noblesse oblige, das Gesicht des Kindes hebt und senkt sich mit dem Schnurren, dem Kind fallen die Augen zu, das Schnurren verstummt, hebt wieder an, verstummt … Draußen führen zwei Tauben ihren Dialog. Gurrdigurr, gurrr, die Axt schlägt, eins, zwei, drei …
    Die Frau, die gerade einen Brief nach England schreibt, hält den Federhalter über das Papier und lächelt, denn sie ist gar nicht hier, sie träumt von einem Winterabend in London, draußen auf den Straßen ist es laut und voll, und sie ist bei ihrer lieben Freundin Daisy Lane, der kleinen, energischen Frau mit dem Sinn für Ironie, die nie geheiratet hatte, weil sie eine der vielen war, deren Männer im Stellungskrieg umgekommen waren. Voller Reue denkt sie, dass sie nichts in

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