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Unter der Haut (German Edition)

Unter der Haut (German Edition)

Titel: Unter der Haut (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Doris Lessing
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Zeigefinger ins Fleisch um den Knöchel – da war die Stelle, ja, und ganz weit weg, unter den Rippen, kam die Antwort, ein Gefühl, fast wie ein Schmerz; es würde sich zu einem Schmerz entwickeln, wenn ich länger drückte, aber meine Finger waren schon weitergewandert, um meinen Körper und seine geheimen Harmonien zu erkunden. Ob ich mich trauen sollte, auf die Uhr zu schauen? Die halbe Stunde musste doch fast um sein? Ich lag doch schon eine Ewigkeit im Bett. Ich schielte zur Uhr – nein, unmöglich! Die Zeiger mussten stehen geblieben sein, ich riss die Uhr hoch und schüttelte sie. Nein, sie tickte, und es waren erst drei Minuten vergangen. Ein empörter Aufschrei, den ich sofort unterdrückte; hatte sie mich gehört, würde sie hereinkommen? Ich schloss die Augen, machte mich steif und stellte mich schlafend. Aber darin lauert eine Gefahr, denn man nickt leicht ein dabei, und
ich war nicht müde.
Ich lag da und lauschte mit dem ganzen Körper, mit meinem ganzen Leben … Da hörte ich von dem anderen Bett her ein Geräusch, das wie das Flattern einer kleinen gefangenen Motte klang. Meine Freundin, die Katze, war da. Ich sprang auf und beugte mich über sie, sie lag zusammengerollt da, und ihr graues, seidiges Fell bewegte sich mit ihren Atemzügen; sie war wie ich in ihre eigene Zeit eingeschlossen, in den Rhythmus ihrer Atemzüge. Ich war überzeugt, dass sie verstand, welche Qual ein Mittagsschlaf sein konnte, diese halbe Stunde, die nie verging. Ich berührte ihre kleine graue Pfote mit meinem Finger, und in demselben Moment umschloss sie ihn fest. Die Krallen gruben sich, kleinen Mondsplittern gleich, in meine Haut und wurden wieder eingezogen. Sie machte das kleine Geräusch, das bedeutete, ich schlafe, und ich ging wieder weg und warf mich mit einem solchen Schwung aufs Bett, dass die Federn laut quietschten.
    Aber ich konnte die Katze dort sehen, ich hatte Gesellschaft, wenn ich sie weckte, würde sie sich zu mir legen, ein weiches Gewicht auf meiner Schulter. Aber das hieß, dass ich dann still liegen musste … Draußen am Holzhaufen hackte der Hausboy Holz, und die dumpfen Geräusche der Axt klangen wie das Uhrenschlagen. Die Tauben schwiegen, meine Lider wurden schwer. Ich hielt mich wach, indem ich mit großen Schlucken leckeres, lauwarmes Wasser aus dem Glas trank, an dessen Wänden Blasen hingen. Jede Blase war eine kleine Welt, und ich hob einen Strohhalm auf, der aus der Strohdecke gefallen war, und jagte die silbrigen Blasen im Glas umher, bis sie eine nach der andern ausgingen wie Geburtstagskerzen.
    Das Zifferblatt zeigte an, dass fünf Minuten vorbei waren. Mich erfasste das nackte Elend. Die Ewigkeiten, die ich bei Mrs. Scott verbrachte, empfanden meine Eltern ganz anders: »Aber es waren doch nur zwei Trimester, mehr nicht«, wobei sie mich, wie so häufig, belustigt und ungläubig ansahen. Vor mir lag die Klosterschule und damit das nächste Exil – die Ewigkeit. Meine Mutter las uns das Neue Testament aus der Kinderbibel vor. Die Ewigkeit: eine Zeit, die nie zu Ende geht. Flach auf dem Rücken liegend, die Arme ausgebreitet, die Augen auf den kühlen Schatten unter dem gelben Stroh gerichtet, das so hoch über mir zu sein schien, dachte ich an Zeit, die nie zu Ende geht. Nie, nie, nie zu Ende … Ich hielt vor Konzentration die Luft an. Sie geht nie zu Ende, nie … Mein Hirn schien zu taumeln, mein Kopf war voll verlangsamter Zeit, Zeit ohne Ende. Für eine Sekunde, die Dauer eines Blitzschlags, kam es mir vor, als hätte ich es erfasst – ja, so, jetzt hab ich’s –, und war plötzlich erschöpft. Jetzt musste es doch Zeit zum Aufstehen sein? Nach der Uhr waren erst zehn Minuten vergangen. Ohne es zu wollen, stieß ich einen lauten Schrei der Empörung aus und schlug mir dann beide Hände auf den Mund, aber das nützte nichts mehr, meine Mutter hatte mich gehört und kam hereingestürzt. »Was ist los? Was hast du?« »Die Uhr geht falsch«, weinte ich. »Sie geht nicht weiter.«
    Sie war mit wenigen Schritten bei der Uhr und sah nach. Sie hatte gerade Zeit gehabt, ihr Croxley-Briefpapier und die Umschläge hervorzuholen und sich hinzusetzen, um zur Ruhe zu kommen, ein paar Szenen aus diesem ihrem Leben auszuwählen und Worte zu überlegen, die ihrer in London als Lehrschwester arbeitenden Freundin Daisy Lane vermitteln konnten, wie unerwartet und anders hier alles war. »Wir leben in der tiefsten Wildnis«, hatte sie vielleicht schreiben wollen. »Unser Wasser

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