Unter der Haut (German Edition)
meine Mutter an, doch noch ein Kind zu bekommen. Sie war eine sehr mütterliche Frau, und es muss schmerzhaft für sie gewesen sein, dass ihre kleine Tochter ihre unterdrückten Instinkte verstärkte. »Bitte, Mami, bitte, ich passe auch mit auf.« »Aber wir können uns kein Kind mehr leisten«, sagte sie ein ums andere Mal. Und dann, schon zu diesem frühen Zeitpunkt: »Außerdem wäre es für Papa zu viel.« Die Stärke meiner Sehnsucht nach einem Geschwisterchen mischte sich mit meinem Heimweh; ich bin sicher, dass Sehnsüchte dieser Intensität eigentlich auf etwas anderes gerichtet sind, das uns vielleicht bei der Geburt verloren geht. Aber durch meine Trauer darum, dass kein Kind mehr kommen würde, merkte ich, wie sehr »Baby« nicht nur das Kind meiner Mutter, sondern auch mein Kind gewesen war. Von da an vergötterte ich jedes kleine Kind im Distrikt, war kaum von ihm zu trennen und bettelte darum, es mit nach Hause nehmen zu dürfen. Mit der Zeit wurde diese Liebe im ganzen Distrikt freundlich belächelt: »Komisch, wie versessen eure Kleine auf Babys ist.«
Im Bücherregal aus den Benzinkisten neben dem Bett meiner Mutter, hinter den Liberty-Cretonnes, deren frische Farben allmählich verblassten, stand ein Buch über das Kinderkriegen, das Geburtshilfehandbuch aus dem Royal Free Hospital. Oft legte ich mich auf das Bett meiner Mutter und betrachtete die Wachstumsstadien des ungeborenen Kindes, studierte den dicker werdenden Bauch und durchlebte in der Fantasie die Wehen und die Geburt. Ich identifizierte mich so stark mit diesem Vorgang, dass ich
beinahe
wirklich glaubte, hinterher würde ein Säugling neben mir auf dem Bett liegen. Diese Fantasie hatte auch eine erotische Komponente, allerdings nur dem Empfinden nach, nicht in der physischen Realität. Wer war der Mann, den man dazu brauchte? Einer der kleinen Jungen aus dem Distrikt, in den ich verliebt war und mit dem ich eine Familie gründen wollte.
Die Ferien waren randvoll mit Erlebnissen und besonderen Ereignissen. Dafür sorgte meine Mutter. Sie führte nicht nur unser Bildungsprogramm fort, indem sie uns über vergangene Epochen, Geografie und die großen Forschungsreisen aufklärte, wir machten auch Besuche auf den anderen Farmen und bekamen unsererseits Besuch. Wenn die Familien eintrafen und die Kinder nach draußen geschickt wurden, machten wir keine Spiele im landläufigen Sinn. Wir pirschten uns an Tiere heran und legten uns auf die Lauer, um sie zu beobachten, wir beobachteten Vögel, lernten im Straßenstaub Spuren zu unterscheiden, suchten in anstehendem Gestein nach Goldadern. Mein Bruder bekam sein erstes Luftgewehr, und er schoss auf alles, was Flügel hatte. Die Gewehre trennten die Kinderbanden nach Jungen und Mädchen: Die Jungen schossen, und die Mädchen spielten Mutter und Kind. Aber wenn ich mit meinem Bruder allein war, gingen wir zusammen in den Busch.
Die geniale Begabung, die meine Mutter bei der Ausrichtung von Festen an den Tag legte, zeigte sich auch bei Picknicks, die wir entweder mit anderen Familien zusammen oder allein unter uns veranstalteten. Wir luden das Auto mit Speisen und Getränken voll, und los ging es zu einer Lichtung im Busch, wo wir Feuer machten, Eier und Würstchen brieten und uns unter die Bäume legten, um den Mond zu betrachten oder die Sterne zu bestimmen. Wenn mehr Kinder dabei waren, sangen wir lustige Lieder wie
Campdown Races
oder traurige wie
Shenandoah.
Es waren nicht englische, sondern amerikanische Lieder.
Mehrmals am Tag wurden mein Bruder oder ich oder wir beide gerufen, weil es etwas zu lernen gab. Meine Mutter oder mein Vater hatte im Busch einen Schädel oder ein Skelett gefunden oder einen goldhaltigen Steinklumpen. Sie kochte die Schädel und die Skelette kleiner Tiere und Vögel, bis sich das Fleisch löste und wir den Knochenbau erkennen konnten. Sie blies Vogeleier aus und nahm Vogelnester auseinander, sie schnitt Termitenbauten auf, um uns ihre Gärten, ihre Brutkammern und ihre Gangsysteme zu zeigen. Sie zeigte uns leere Schlangenhäute und Spinnen- und Schlangeneier. Sie zerrupfte Blumen und Blätter und ließ uns die Einzelteile abmalen.
Unterdessen ging das Gerede über den Krieg, wie es schien, Tag und Nacht ohne Unterlass weiter. Manchmal hatte man den Eindruck, als wäre das Haus auf dem Hügel voller Männer in Uniform, aber sie waren tot wie die Soldaten auf den Fotos in all den anderen Häusern im Distrikt. Und dann die vielen Kriegsversehrten. Mr. Livingstone
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