Unter die Haut: Roman (German Edition)
weiß nicht, Sher – ist es nicht irgendwie albern, wenn sich eine Frau meiner Größe nach so etwas sehnt?«
»Du lieber Himmel, Ivy, wenn dich die Feministinnen dieser Welt hören könnten, würden sie in lautes Wehklagen ausbrechen.« Sherry seufzte ungeduldig. Von einer Frau, die für gewöhnlich einen glasklaren Verstand besaß, waren solche Aussagen wirklich nur schwer zu verkraften. »Sobald sie genug Tränen über dein mangelndes Selbstwertgefühl vergossen hätten, würde sie in Anbetracht deiner bevorzugten Auswahl an Koseworten wahrscheinlich der Schlag treffen. Soweit ich mich erinnern kann, galt ›Baby‹ zuletzt als herablassend und abwertend.« Sie zuckte mit den Schultern und schloss grinsend: »Ich für meinen Teil fand es allerdings immer irgendwie nett.«
»Sherry hat Recht«, mischte sich jetzt Jaz ein. »Aber schweifen wir nicht gerade vom eigentlichen Thema ab? Ivy, glaubt D’Ambruzzi tatsächlich, dass irgendjemand aus der Familie diesen Perversen kennen könnte, der dich anruft?«
»Er hält es nicht für ausgeschlossen, Jaz. Oder vielleicht kennt ihn ein Freund von einem Freund. Deshalb dürft ihr kein Wort über meine Beziehung zu ihm verlauten lassen. Ich weiß, wie schwer es euch fällt, ein Geheimnis für euch zu behalten, aber es ist wichtig. Er findet es äußerst beunruhigend, dass Hart meine Geheimnummer rausgekriegt hat.«
Als Jaz die tiefere Bedeutung dieser Worte aufging, flüsterte sie: »Mein Gott, das heißt also, es könnte jemand wie Tyler sein! Ich habe ihn tatsächlich ungefähr um die Zeit kennen gelernt, als die ganze Sache anfing.« Sie schüttelte sich, doch dann hellte sich ihre Miene wieder auf. »Aber das ist wohl nicht sehr wahrscheinlich, oder? Immerhin habe ich mich heute Nachmittag stundenlang bei euch über sein mangelndes sexuelles Interesse beklagt. Und hier geht es um einen Vergewaltiger.«
Hätte Vincent die Wohnungstür nur fünf Sekunden eher geöffnet, dann hätte er dieses Missverständnis aufklären können. Vergewaltigung wurde von Fachleuten weniger als Verbrechen aus Leidenschaft betrachtet, sondern in erster Linie als Gewaltverbrechen. Das war auch der Grund, warum die Polizei von Seattle ihre Abteilung für Sexualdelikte einige Jahre zuvor in Special Assault Unit unbenannt hatte und warum im ganzen Land viele Abteilungen für Sexualdelikte ähnliche Namen bekamen. Trotz der Art, wie die Verbrechen, mit denen diese Abteilungen tagtäglich zu tun hatten, verübt wurden, hatten sie mehr mit der Ausübung von Macht und brutaler Gewalt zu tun als mit Sex.
Aber er kam ein paar Sekunden zu spät, um Jasmines Bemerkung noch zu hören, deshalb blieb ihm die Gelegenheit, die Sache richtig zu stellen, verwehrt.
Als er Ivys Wohnung zum zweiten Mal betrat, hatte er sein professionelles Gebaren angelegt wie eine kugelsichere Weste. Da er nicht in der Lage war, mit den widersprüchlichen Empfindungen umzugehen, die in seinem Inneren tobten, verschloss er sich ihnen einfach. Er legte eine unterkühlte Autorität an den Tag, als er Ivys Cousinen einschärfte, mit niemandem über deren Situation zu reden. Als er ihnen anschließend erklärte, sie sollten jetzt besser nach Hause gehen, stellte sein unpersönlicher Befehlston sicher, dass keine der Frauen auch nur auf die Idee kam, ihm zu widersprechen.
In dem Moment, in dem sich die Aufzugtüren hinter ihnen schlossen, schwand sein professionelles Verhalten dahin wie Schnee in der Sonne. Er drehte sich zu Ivy um und sah sie mit einem Blick an, der so viele widersprüchliche Signale enthielt, dass Ivy nicht wusste, was sie davon halten sollte. Bevor sie sich jedoch Gedanken darüber machen konnte, hatte er sie bereits am Handgelenk gepackt, zurück in seine Wohnung gezerrt und sie gezwungen, sich neben Keith aufs Sofa zu setzen.
Vincent war gleichermaßen wütend und verwirrt, als er vor ihr auf und ab zu gehen begann. Schließlich trat er zum Telefon, gab den Code für die Rufumleitung ein und setzte sich zu ihrer anderen Seite, wobei er geflissentlich den Blicken auswich, mit denen sie jeder seiner Bewegungen verfolgte. »Okay«, sagte er knapp. »Schieß los.«
»Er verstellt seine Stimme«, sagte Ivy. Vincents Verhalten war ihr ein Rätsel, aber sie wollte vorerst darauf verzichten, eine Diskussion darüber zu beginnen. »Allerdings kann er seine Herkunft nicht ganz verbergen. Seine Ausdrucksweise deutet auf eine höhere Schulbildung hin, und dann hör dir das mal an …« Sie wiederholte Harts
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